Entscheidungsstichwort (Thema)
rechtswidrige außerordentliche Verdachtskündigung eines Betriebsratsmitglieds. wichtiger Grund. unbefugte Privatnutzung eines E-Mail-Accounts und des Internets. exzessive Nutzung. Weiterleitung von „Fun-Mails”. Verletzung der Verschwiegenheitspflicht. Weiterleitung einer Betriebsvereinbarung an Dritte. unerlaubte Nebentätigkeit. unbefugte Privatnutzung eines Dienstwagens. versuchter Prozessbetrug. Nachschieben von Kündigungsgründen. vorherige Anhörung des Betriebsrats. Erforderlichkeit vorheriger Abmahnung. Interessenabwägung
Normenkette
KSchG § 15 Abs. 1; BGB § 626 Abs. 1; BetrVG § 102
Verfahrensgang
ArbG Herne (Urteil vom 25.01.2011; Aktenzeichen 3 Ca 3013/10) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Herne vom 25.01.2011 – 3 Ca 3013/10 – wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlosen Kündigung.
Die am 24.06.1960 geborene Klägerin ist verheiratet. Seit 1984 ist die Klägerin, die eine Ausbildung als Physiklaborantin besitzt, bei der Beklagten mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden als Chemielaborantin beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge für die chemische Industrie Westfalen Anwendung. Unter Eingruppierung in die Entgeltgruppe 9 erzielte die Klägerin zuletzt eine monatliche Bruttovergütung von rund 2.920,80 EUR brutto.
Die Beklagte gehört einer Unternehmensgruppe an, die weltweit an verschiedenen Standorten Latices und Acrylat-Dispersionen herstellt. Sie hat ihren Sitz in M1 und beschäftigt dort zurzeit 379 Mitarbeiter. N1 Marketing, Vertrieb und Anwendungstechnik sowie Forschung und Entwicklung unterhält die Beklagte in M1 insgesamt zwei Produktionsstätten, und zwar an der W1 (PLC) und im Chemiepark M1 (CPM).
Im Betrieb der Beklagten ist ein aus neun Personen bestehender Betriebsrat gebildet, dessen Vorsitzender Herr P1 B2 ist. Mitglied des Betriebsrats ist seit langen Jahren auch die Klägerin. Sie gehört auch zum Vertrauensleutevorstand der IG BCE. Das Betriebsratsbüro befindet sich im Chemiepark M1 (CPM), Bau 2620.
Die Beklagte unterhält einen Pool mit zurzeit sechs PKW als Dienstfahrzeugen, die unter anderem von den Betriebsratsmitgliedern ausschließlich für Dienstfahrten im Rahmen der Betriebsratstätigkeiten, z. B. für Fahrten von der Zentrale der Beklagten (PLC) in der W1 in M1 zum Chemiepark M1 (CPM) genutzt werden dürfen. Die Nutzer der Dienstfahrzeuge sind verpflichtet, ein Fahrtenbuch zu führen und für jede Fahrt Angaben über Datum, Strecke, Fahrtziel, Kilometerstand Anfang und Ende, gefahrene Kilometer etc. zu machen. Wegen der Einzelheiten zur Nutzung der Dienstwagen der Beklagten wird auf die Gesamtbetriebsvereinbarung vom 01.09.2006 über die „Zuweisung und Beschaffung von Dienstfahrzeugen, Mietwagen, Privatwagen und Bahncard” (Bl. 36 ff. d. A.) sowie auf die Verfahrensanweisung „Carpool P3 Center vom 03.03.2010 (Bl. 45 ff. d. A.) Bezug genommen.
Die Klägerin hat in den vergangenen Jahren ihrer Beschäftigung bei der Beklagten regelmäßig von der Möglichkeit der Nutzung eines Dienstfahrzeuges Gebrauch gemacht. In den Fällen, in denen die Klägerin unmittelbar zu Dienstbeginn einen Termin im Chemiepark M1 wahrzunehmen hatte, war es ihr von der Beklagten gestattet, das jeweilige Dienstfahrzeug am Werktag zuvor für den Heimweg zur S2 12 in M1 zu benutzen, um am nächsten Werktag von dort aus direkt zum Chemiepark M1 und wieder zurück zur Zentrale der Beklagten zu fahren. Für die von der Klägerin mit dem Dienstwagen in der Vergangenheit zurückgelegten Fahrten, die dienstlich veranlasst waren, sind mehrere von der Beklagten im Schriftsatz vom 16.11.2010 (Bl. 12 ff., 17 d. A.) aufgelistete Fahrtstrecken möglich. Bezug genommen wird insoweit auf den von der Beklagten zu den Gerichtsakten eingereichten Auszug aus dem Stadtplan für die Stadt M1 mit eingezeichneten Routen und Wegen nebst Aufstellung (Bl. 188 d. A. 10 Sa 471/11 Landesarbeitsgericht Hamm).
Bereits im Sommer 2009 kam es zu einer anonymen Anschuldigung, die Klägerin würde Dienstwagen privat nutzen. Die Beklagte teilte der Klägerin hierauf mit Schreiben vom 18.08.2009 (Bl. 165 d. A.) folgendes mit:
„Anonyme Anschuldigung „Verstoß gegen Dienstwagenregelung”
Sehr geehrte Frau M2,
uns liegt ein anonymes Schreiben vor, in dem Ihnen ein Verstoß gegen die Dienstwagenregelung von P3 vorgeworfen wird.
Wir haben den Sachverhalt geprüft und teilen Ihnen mit, dass Sie sich in dieser Hinsicht absolut korrekt verhalten haben, und wir keine Veranlassung sehen diesem anonymen Vorwurf weiter nachzugehen.”
Am 03.09.2010 berichtete ein Mitarbeiter der Beklagten, den diese nicht namentlich benennt, Mitarbeitern der Personalabteilung der Beklagten, den Herren G1 und S3, darüber, dass die Klägerin wiederholt Dienstwagen der Beklagten unbefugt privat genutzt habe. Ferner wurde der Klägerin vorgeworfen, sie habe streng vertrauliche Informationen über das Unternehmen der Beklagten per...