Entscheidungsstichwort (Thema)
Zulässigkeit der Bewilligung der Verfahrenskostenhilfe trotz Nichtgebrauchs des vorgeschriebenen Formulars über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse
Leitsatz (amtlich)
1. Das Tatbestandsmerkmal "soll" in § 124 Abs. 1 Nr. 2 ZPO ist dahingehend zu verstehen, dass die Aufhebung den Regelfall bildet, dem Gericht aber Spielraum für Ausnahmefälle bleiben.
2. Ein Ausnahmetatbestand ist anzunehmen, wenn gegen den Vordruckzwang (§ 120 a Abs. 4 Satz 1 ZPO) verstoßen wird, die fortbestehende Bedürftigkeit aber offensichtlich oder nachgewiesen ist.
Normenkette
ZPO § 124 Abs. 1 Nr. 2, § 120a Abs. 4 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Bonn (Entscheidung vom 10.10.2016; Aktenzeichen 5 Ca 465/15 EU) |
Tenor
Auf die sofortige Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Bonn vom 10.10.2016 (5 Ca 465/15 EU) aufgehoben und die Prozesskostenhilfe weiterhin ratenfrei gewährt.
Gründe
I.
Die gemäß §§ 11 Abs. 1 RPflG i. V. m. §§ 127 Abs. 2 Satz 2 u. 3 ZPO, 567 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, 78 Satz 1 ArbGG zulässige sofortige Beschwerde hat auch in der Sache Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Prozesskostenhilfe liegen nicht vor.
1. Das Gesetz sieht in § 124 Abs. 1 Nr. 2 ZPO, der gemäß § 11 a Abs. 1 ArbGG auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren Anwendung findet, vor, dass das Gericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe aufheben soll, wenn eine Partei eine Erklärung nach § 120 a Abs. 1 Satz 3 ZPO nicht oder ungenügend abgegeben hatte.
a) Die gesetzliche Formulierung im Aufhebungstatbestand "soll" ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks. 17/11472 S. 34) dahingehend zu verstehen, dass die Aufhebung bei Vorliegen der genannten Voraussetzungen den Regelfall bildet, dem Gericht allerdings Spielräume für Ausnahmefälle verbleiben.
b) Einen Ausnahmetatbestand im Sinne der vorstehenden Gesetzesbegründung hat die Rechtsprechung angenommen, wenn eine Prozesskostenhilfepartei zwar gegen den in § 120 a Abs. 4 Satz 1 ZPO angeordneten Vordruckzwang verstößt, die fortbestehende Bedürftigkeit aber offensichtlich oder nachgewiesen ist (LAG Berlin-Brandenburg 19.02.2015 - 10 Ta 228/15 -; LAG Hamm 25.01.2016 - 14 Ta 486/15). Zur Begründung der Ausnahme wird geltend gemacht, dass es sachlich nicht gerechtfertigt sei, wenn das Gericht lediglich wegen eines Formfehlers die Bedürftigkeit einer Prozesskostenhilfepartei ignorieren würde (LAG Berlin-Brandenburg a.a.O. Rn. 14).
Dieser Rechtsauffassung schließt sich das erkennende Gericht für Ausnahmefälle an, bei denen die Bedürftigkeit auch ohne Zusammenstellung in dem Vordruck ohne weiteres erkennbar ist. Diese eingeschränkte Handhabung des § 120 a Abs. 4 Satz 1 ZPO geht konform mit der Rechtsprechung zu § 117 Abs. 4 ZPO (i.V.m. § 117 Abs. 3 ZPO) im Rahmen des Bewilligungsverfahrens. In diesem Bereich ist anerkannt, dass die Versagung von Prozesskostenhilfe unzulässig ist, wenn das Gericht sich - ungeachtet formaler Mängel - ein zuverlässiges Bild über die wirtschaftlichen Verhältnisse aus den vorgelegten Unterlagen machen kann (BGH 18.11.2009 - XII ZB 79/09 - [...]; Zöller/Geimer, ZPO, 31. Aufl. 2016, Rn. 16).
2. Vorliegend hat das Arbeitsgericht Bonn die Prozesskostenhilfe wegen Fehlens des Vordrucks aufgehoben, ohne zu prüfen, ob die am 16.08.2016 übersandten Unterlagen eine zuverlässige Einschätzung erlauben und daher ein Ausnahmefall vorliegt, der eine Aufhebung der Prozesskostenhilfebewilligung nicht rechtfertigt.
3. Aus den von dem Kläger am 16.08.2016 übermittelten Unterlagen sowie weiteren im Verfahren vorgelegten Unterlagen ergibt sich, dass kein einzusetzendes Einkommen verfügbar ist.
a) Das Nettoeinkommen des Klägers beträgt 1.608,95 EUR.
b) Von diesem Nettoeinkommen sind der Unterhaltsfreibetrag in Höhe von 473,00 EUR sowie der Erwerbstätigenfreibetrag in Höhe von 215,00 EUR abzugsfähig.
c) Darüber hinaus hat der Kläger nachgewiesen, dass er die Unterkunftskosten in Höhe von 934,40 EUR (954,85 EUR - 20,45 EUR für Stellplatz) aus seinem Vermögen bestreitet. Diese Kosten sind gemäß § 115 Abs. 1 Satz 3 Nr. 3 ZPO zu berücksichtigen. Mit Rücksicht auf das geringe eigene Einkommen der Ehefrau in Höhe von 626,92 EUR, das wenig höher ist als der Unterhaltsfreibetrag, kann vorliegend von einer Quotierung der Wohnungskosten abgesehen werden.
d) Bereits unter Abzug der vorgenannten Beträge verbleibt dem Kläger kein einzusetzendes Einkommen i. S. v. § 115 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Außerdem wären darüber hinaus weitere Abzugsbeträge für die Unterhaltspflichten gegenüber den Kindern (abzüglich des Kindergeldes und erhaltener Ausbildungsvergütung) zu berücksichtigen. Im Ergebnis ist die Prozesskostenhilfe jedenfalls weiterhin ratenfrei zu gewähren.
II.
Der Kläger wird darauf hingewiesen, dass er gemäß § 120 a Abs. 2 Satz 1 ZPO verpflichtet ist, dem Gericht unverzüglich mitzuteilen, wenn sich seine wirtschaftlichen Verhältnisse wesentlich ändern oder er aufgrund eines Umzugs eine neue Postanschrift erhält.
Fundstellen
Haufe-Index 10526261 |
AGS 2017, 483 |