Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit von Beschlüssen über die Abberufung einzelner Betriebsratsmitglieder einer Minderheitsliste und deren Freistellungen und aus dem Betriebsausschuss. Wirksamkeit einer Betriebsratswahl
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Abberufung einzelner Betriebsratsmitglieder einer Minderheitsliste aus ihren Freistellungen und aus dem Betriebsausschuss ist unwirksam, wenn sie der Umgehung des durch die Verhältniswahl gewährleisteten Minderheitenschutzes dienen. 2. Der Minderheitenschutz ist im Betriebsverfassungsgesetz vielmehr nur punktuell vorgesehen und unterschiedlich ausgeprägt.
Normenkette
BetrVG § 19; ArbGG § 83
Verfahrensgang
ArbG Bonn (Entscheidung vom 31.08.2023; Aktenzeichen 1 BV 35/22) |
Tenor
I. Die Beschwerden des Betriebsrats, der Beteiligten zu 5. und des Beteiligten zu 6. gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Bonn vom 31.08.2023 - 1 BV 35/22 - werden zurückgewiesen.
II. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit von Beschlüssen über die Abberufung einzelner Betriebsratsmitglieder einer Minderheitsliste aus ihren Freistellungen und aus dem Betriebsausschuss sowie über die Wirksamkeit der Nachwahlen.
Die Arbeitgeberin ist die operative Tochtergesellschaft der D AG. Die Antragstellerin war bis zum 31.10.2021 auf der Liste der Gewerkschaft ver.di Mitglied des Betriebsrats in dem durch einen Zuordnungstarifvertrag gebildeten Betrieb Privatkunden. Für die Betriebsratswahl am 10.03.2022 kandidierte sie als Listenführerin der von ihr gegründeten Liste #S. Diese Liste erzielte 18,5 Prozent der Wählerstimmen und ist seitdem mit drei Mitgliedern, darunter dem Beteiligten D, im insgesamt 17köpfigen Betriebsrat vertreten.
Die Beteiligten S und B sind als Angehörige der Liste ver.di ebenfalls Mitglieder des Betriebsrats. Frau S war seit 2013 freigestellte Betriebsrätin und ist seit 2018 Mitglied des Aufsichtsrats der D AG. Herr B ist zugleich der Vorsitzende des Gesamtbetriebsrats.
In der konstituierenden Sitzung des neu gewählten Betriebsrats am 18.03.2022 wurden die sechs freizustellenden Betriebsratsmitglieder und die fünf Vertreter für den Betriebsausschuss gewählt. Für die Liste #S wurden drei Mitglieder nominiert, für die Liste ver.di sechs. Das Ergebnis der Wahl ergab nach dem d'Hondtschen Höchstzählverfahren je einen Platz für die Liste der Antragstellerin. Sie selbst war damit für eine Freistellung und für eine Mitgliedschaft im Betriebsausschuss vorgesehen. Als Nachrücker waren für sie der Beteiligte D und die zwischenzeitlich aus dem Betriebsrat ausgeschiedene Frau Sc bestimmt.
Auf der nächsten Sitzung des Betriebsrats am 23.03.2022, deren Tagesordnung als Punkt 3.3 die Abberufung der Antragstellerin aus der Freistellung und als Punkt 3.4 die Abberufung der Antragstellerin aus dem Betriebsausschuss vorsah, wurden jeweils mit einer "Dreiviertel-Mehrheit" entsprechende Beschlüsse gefasst. Der Beteiligte D rückte sodann sowohl in die Freistellung als auch in den Betriebsausschuss nach.
Auf einer Sondersitzung am 29.03.2022 beschloss der Betriebsrat mit drei Vierteln der Stimmen die Abberufung des Beteiligten D aus der Freistellung und seine Abberufung aus dem Betriebsausschuss. In beiden Fällen rückte Frau Sc nach.
In seiner Sitzung am 11.04.2022 beschloss der Betriebsrat zunächst wiederum mit einer Dreiviertelmehrheit die Abberufung von Frau Sc aus der Freistellung sowie ihre Abwahl aus dem Betriebsausschuss. Wegen fehlender weiterer Nachrücker wählte der Betriebsrat sodann nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl die Beteiligte S in die Freistellung und den Beteiligten B in den Betriebsausschuss.
Zum 01.11.2022 versetzte die Arbeitgeberin die Antragstellerin mit Zustimmung des Betriebsrats in den Bereich Finanzen Festnetz & Innovation des Betriebs Querschnitt. Dem hiergegen gerichteten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung sowie der gegen die Versetzung gerichteten Hauptsacheklage gab das Arbeitsgericht Bonn statt. Die Antragstellerin ist seitdem nach wie vor im Betrieb Privatkunden beschäftigt.
Die Antragstellerin hat die Auffassung vertreten, bei den Wahlen zu den Freistellungen und zum Betriebsausschuss sei der Minderheitenschutz systematisch, bewusst und willentlich unterlaufen worden, um eine Mehrheitswahl durchführen zu können. Die systematische Vorgehensweise der Betriebsratsmitglieder der Liste ver.di habe dazu geführt, dass die Minderheitsrechte der Liste #S verletzt und schließlich völlig aufgehoben worden seien. Der Mehrheitsliste sei es nur darum gegangen, entgegen dem Ergebnis der Verhältniswahl mithilfe einer Mehrheitswahl langjährige Mitglieder der Liste ver.di in die Freistellung und in den Betriebsausschuss zu entsenden.
Die Antragstellerin hat beantragt,
- festzustellen, dass der in der Sitzung des Betriebsrates vom 23.03.2022 gefasste Beschluss zu ihrer Abberufung aus der Freistellung nichtig, hilfsweise unwirksam ist;
- weiter festzustellen, dass der in der Sitzung des Betriebsrates vom 23.03.2022 gefasste Beschl...