Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer außerordentlichen Verdachtskündigung wegen sexueller Belästigung. Angebot eines Auflösungsantrags
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch die sexuelle Belästigung stellt keinen absoluten Kündigungsgrund dar. Vielmehr ist je nach den besonderen Umständen des Einzelfalles zu prüfen, ob nach allgemein kündigungsrechtlichen Grundsätzen eine außerordentliche Kündigung nach § 626 BGB oder eine ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses gemäß § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG als Tat- oder jedenfalls als Verdachtskündigung in Betracht kommt. Hinsichtlich letzterer muss der Verdacht allerdings auf konkrete - vom Kündigenden darzulegende und ggf. zu beweisende - Tatsachen gestützt sein.
2. Ordentliche und außerordentliche Kündigungen wegen einer Vertragspflichtverletzung setzen regelmäßig eine Abmahnung voraus. Beruht die Vertragspflichtverletzung insoweit auf steuerbarem Verhalten des Arbeitnehmers, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass sein künftiges Verhalten schon durch die Androhung von Folgen für den Bestand des Arbeitsverhältnisses positiv beeinflusst werden kann.
3. Stützt der Arbeitgeber einen Auflösungsantrag auf das Verhalten Dritter, wie etwa die Weigerung von Arbeitskollegen mit dem zu Unrecht gekündigten Arbeitnehmer künftig zusammenarbeiten zu wollen, so scheidet eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses mangels Vorliegens hinreichender Auflösungsgründe im Sinne des § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG aus, wenn der Arbeitgeber nicht versucht hat, der Drucksituation durch geeignete und zumutbare Gegenmaßnahmen zu begegnen.
Normenkette
BGB § 626; AGG § 3 Abs. 4; KSchG §§ 9-10
Verfahrensgang
ArbG Bonn (Entscheidung vom 18.03.2022; Aktenzeichen 2 Ca 1552/21) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bonn vom 18.03.2022 - 2 Ca 1552/21 - sowie der Auflösungsantrag der Beklagten werden kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Kündigungen des Arbeitsverhältnisses sowie einen Auflösungsantrag der Arbeitgeberin.
Der am 1979 geborene Kläger, verheiratet und zwei Kindern zum Unterhalt verpflichtet, ist seit dem Oktober 2016 bei der Beklagten, die ca. 400 Arbeitnehmer beschäftigt, als Maschinen- und Anlagenführer in der Tierfutterproduktion beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung lag zuletzt bei etwa 4.700,-- €, das Bruttotarifentgelt bei 3.296,-- €.
Am 20.08.2021 entwickelte sich im Pausenraum eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und der Zeugin P, einer Leiharbeitnehmerin, wegen des Vorwurfs des Verlassens einer Produktionslinie durch die genannte Zeugin. Der Ablauf des Streites, der vom Zeugen F geschlichtet wurde, ist teilweise umstritten.
Im Nachgang der Auseinandersetzung fanden unter dem 24.08.2021 Personalgespräche statt. Die Zeugin P berichtete der Beklagten neben ihrer Sicht des Streitverlaufs u.a. von Annäherungsversuchen des Klägers, die sie zurückgewiesen habe und einem Vorfall aus dem Juli 2021, wonach der Kläger sie beim Einsatz an der Linie HDG 9 fest an ihren Hintern gefasst habe. Sie habe ihm gesagt, er solle dies nicht noch einmal machen, worauf der Kläger schelmisch gelacht habe. Einige Tage später habe sie ihm mitgeteilt, dass der Kläger die Annäherungsversuche unterlassen solle, sonst werde sie die Sache eskalieren lassen. Sie habe sich daher am 20.08.2021 vom Kläger provoziert gefühlt. Der zunächst gesondert und dann gemeinsam angehörte Kläger stritt am 24.08.2021 die vorgeworfenen Belästigungen ab.
Die Beklagte hat die Anschuldigungen der Zeugin P zum Anlass genommen, in der Folgezeit Ermittlungen durch diverse Befragungen von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen aufzunehmen. Wegen des Inhalts der Gespräche laut Vorbringen der Beklagten wird auf Bl. 73 ff. d. A. verwiesen.
Nach Darlegung der Beklagten soll die ehemalige Arbeitnehmerin E am 27.08.2021 u.a. behauptet haben, dass der Kläger Sex mit ihr hätte haben wollen und die Größe seines Penis betont habe. Er habe auf ihre Zurückweisung drohend reagiert.
Die Zeugin P äußerte in einem weiteren Personalgespräch am 02.09.2021 u.a., dass der Kläger mit der Größe seines Geschlechtsteils geprahlt habe. Von dem späteren Griff an den Hintern sei sie schockiert gewesen. Der Kläger habe ihr einige Tage später angedroht, dass er ihr das Leben zur Hölle machen werde, wenn sie sich nicht ihm treffe. In der Auseinandersetzung am 20.08.2021 habe der Kläger die Hand erhoben und gesagt, dass er sie schlagen wolle. Der Kläger hat seinerseits die Vorwürfe am 02.09.2021 zurückgewiesen.
Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 08.09.2021 den Betriebsrat zur außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers als Tat- und Verdachtskündigung wegen mehrfacher sexueller Belästigung und Bedrohung der Arbeitskolleginnen P und E an. Dabei schilderte sie auch die Gespräche in dem Zeitraum vom 24.08.2021 bis 02.09.2021, die sie mit aktiven und ehemaligen Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen des Bet...