Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsverfassungsrechtliche Pflichte des Arbeitgebers nach § 111 BetrVG. Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs
Leitsatz (redaktionell)
1. Im Hinblick auf einen Anspruch auf Nachteilsausgleich nach § 113 Abs. 3, 1 BetrVG ist zur Beantwortung der Frage, wann bereits mit der Durchführung einer Betriebsstilllegung durch unumkehrbare Maßnahmen begonnen wird, eine Gesamtbetrachtung derjenigen Umstände, unter denen der Betrieb seiner Tätigkeit nachgeht, vorzunehmen. Hierbei kommt auch der Branchenzugehörigkeit des Betriebes eine erhebliche Bedeutung zu.
2. Vor diesem Hintergrund ist bei der Auflösung eines Mietvertrages durch den Arbeitgeber zu prüfen, ob die angemieteten Räumlichkeiten - etwa aufgrund eines besonderen Raumzuschnitts - für den Fortbestand der betrieblichen Organisation - hier eines Elektronikmarktes - unerlässlich waren.
3. Was den Warenbestand im Einzelhandel angeht, ist davon auszugehen, dass dieser aufgrund bestehender Lieferbeziehungen kurzfristig neu beschafft werden kann.
4. Auch aus etwaigen Freistellungen von Mitarbeitern lässt sich nicht auf die bereits begonnene Durchführung einer Betriebsstilllegung vor Abschluss des Interessenausgleichs schließen.
5. Der Stilllegungsbeschluss selber stellt nicht den Beginn der Durchführung dar. Der Arbeitgeber darf nur ohne Wahrung der Mitbestimmungsrechte nicht mit der Durchführung beginnen. Das Mitbestimmungsrecht nach § 113 Abs. 3 BetrVG setzt hinsichtlich der Umsetzung von unternehmerischen Entschlüssen an. Die Beteiligungsrechte des Betriebsrates setzen gerade konkrete Planungen voraus.
Normenkette
BetrVG §§ 113, 111, 112 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
ArbG Köln (Entscheidung vom 28.04.2022; Aktenzeichen 6 Ca 6086/21) |
Tenor
1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil vom 28.04.2022 - 6 Ca 6086/21 - wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über einen Anspruch auf Zahlung eines Nachteilsausgleichs.
Wegen des erstinstanzlichen streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils vom 28.04.2022 - 6 Ca 6086/21 - Bezug genommen. Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht den Nachteilsausgleichsanspruch der Klägerin als unbegründet abgewiesen, da nicht von unumkehrbaren Maßnahmen der Beklagten hinsichtlich der Schließung des Elektronikmarkts in B-G auszugehen und zudem mit Rücksicht auf die im einschlägigen Sozialplan geregelte Abfindung mit dem Bemessungsfaktor 0,35 kein darüberhinausgehender Nachteil, der durch den Nachteilsausgleich auszugleichen wäre, entstanden sei. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des vorgenannten Urteils (Bl. 177 ff. d. A.) Bezug genommen. Gegen dieses ihr am 10.06.2022 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 06.07.2022 Berufung eingelegt und diese nach Verlängerung der Begründungsfrist bis 10.10.2022 am Montag, dem 13.10.2022, begründet.
Die Klägerin wendet gegenüber der erstinstanzlichen Entscheidung ein, das Arbeitsgericht habe im Rahmen der erstinstanzlichen Entscheidung verkannt, dass die Beklagte bereits unumkehrbare Maßnahmen und vollendete Tatsachen geschaffen habe, bevor der Interessenausgleich vom 10.12.2020 zwischen den Betriebsparteien im Betrieb der Beklagten in B-G geschlossen worden sei. Entscheidend sei, ob seitens des Arbeitgebers Vorbereitungshandlungen für die geplante Betriebsänderung getroffen worden seien, die nicht mehr einseitig wieder zurückgenommen werden könnten - wie bei der unwiderruflichen Freistellung der Belegschaft oder der Kündigung von Arbeitsverhältnissen. Vorliegend sei maßgeblich, dass die Arbeitgeberseite den Mietvertrag über die einzigen Verkaufsräume gekündigt habe. Diesen Mietvertrag habe sie ohne Zustimmung der Vermieterin weder verlängern noch neu abschließen können. Dies werde besonders dadurch deutlich, dass die Räumlichkeiten bereits vor Abschluss des Interessenausgleichs komplett geräumt und darüber hinaus Umbaumaßnahmen für den Nachmieter vorgenommen worden seien. Zudem habe die Beklagtenseite keine einzige konkrete Immobilie benannt, die sie für die Eröffnung eines Smarktes hätte anmieten können. Damit liege eine Auflösung der Organisation auf unbestimmte Zeit vor. Die Beklagtenseite habe noch nicht einmal behauptet, dass ein konkreter Alternativstandort "in der Hinterhand" vorhanden gewesen sei, an dem der Markt innerhalb eines gewissen Zeitraums hätte einziehen können. Hinzu komme, dass die Beklagte sich gegenüber der Vermieterseite gebunden habe, keinen S- oder Mmarkt an anderer Stelle in B-G zu eröffnen. Aus diesem Grund wäre es auch wirtschaftlich nicht in Betracht gekommen, den Betrieb an anderer Stelle am selben Ort fortzusetzen. Weiterhin sei zu berücksichtigen, dass auch die Verlegung des ganzen Betriebs eine Betriebsänderung dargestellt hätte, sofern es sich nicht nur um eine geringfügige Veränderung ...