Entscheidungsstichwort (Thema)
Tätlichkeit. außerordentliche Kündigung. ordentliche Kündigung. Interessenabwägung
Leitsatz (amtlich)
1. Nicht jede Tätlichkeit unter Arbeitskollegen (hier: Kaffee ins Gesicht schütten) führt automatisch und zwingend zur Rechtfertigung einer außerordentlichen Kündigung. Es hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalls und einer umfassenden Interessenabwägung ab, ob eine außerordentliche Kündigung, eine ordentliche Kündigung oder im Ausnahmefall unter Umständen auch nur eine Abmahnung gerechtfertigt ist.
2. Nehmen der Arbeitgeber und auch der Betriebsrat die Verhaltenseigenarten eines Arbeitnehmers über ein Jahrzehnt lang reaktionslos hin, der von sich selbst sagt, er sei bei seinen Arbeitskollegen dafür bekannt, dass er schon mal lautstark schimpfe und notfalls auch einmal Schläge androhe, so spricht dies tendenziell dafür, dass bei Überschreiten der Schwelle zur Tätlichkeit auch die Einhaltung einer ordentlichen Kündigungsfrist noch zumutbar sein kann.
Normenkette
BGB § 626 I; KSchG § 1 II
Verfahrensgang
ArbG Aachen (Urteil vom 14.01.2002; Aktenzeichen 8 Ca 1994/01) |
Tenor
Auf die Berufung des Klägers hin wird das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 14.01.2002 in Sachen 8 Ca 1994/01 d teilweise abgeändert:
Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung der Beklagten vom 11.04.2001 nicht fristlos aufgelöst worden ist, sondern bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist am 31.08.2001 fortbestanden hat.
Die weitergehende Berufung wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden dem Kläger zu 2/3 und der Beklagten zu 1/3 auferlegt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer arbeitgeberseitigen außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung vom 11.04.2001.
Wegen des Sach- und Streitstandes I. Instanz, den erstinstanzlich zur Entscheidung gestellten Sachanträgen und den Gründen, die das Arbeitsgericht Aachen dazu bewogen haben, die Klage abzuweisen, wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des angegriffenen arbeitsgerichtlichen Urteils vom 14.01.2002 Bezug genommen. Wegen der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen W und D wird auf das Sitzungsprotokoll des Kammertermins vom 14.01.2002 verwiesen (Bl. 65 ff. d. A.).
Das Urteil des Arbeitsgerichts Aachen vom 14.01.2002 wurde dem Kläger am 17.06.2002 zugestellt. Er hat hiergegen am 08.07.2002 Berufung einlegen und diese – nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 19.09.2002 – am 10.09.2002 begründen lassen.
Der Kläger führt näher aus, warum er meint, dass die erstinstanzlich vernommenen Zeugen W und Dremel, auf deren Aussagen sich das arbeitsgerichtliche Urteil stütze, unglaubwürdig seien und ihre Aussagen nicht glaubhaft. So habe der Zeuge W als Betroffener den Vorfall vom 06.04.2001 erheblich dramatisiert. Er, der Kläger, habe dem Zeugen Weiser bei einer Körperdrehung den Kaffee unbeabsichtigt auf dessen Arbeitskleidung und nicht in dessen Gesicht geschüttet. Auch sei der Kaffee nicht heiß, sondern allenfalls lauwarm gewesen, da er, der Kläger, schon aus gesundheitlichen Gründen keine heißen Getränke zu sich nehmen könne.
Der Kläger bleibt dabei, dass er in den Tagen vor dem Vorfall von dem Zeugen Weiser erheblich provoziert und noch ca. eine halbe Stunde zuvor mit dem Ausdruck „Fuzzemann” tituliert worden sei. Er habe dann bei dem streitauslösenden Vorfall selbst den Zeugen W zugegebenermaßen lautstark und erregt, wenn auch nicht unberechtigt, angeschrieen. Er sei dann von zwei Mitarbeitern festgehalten worden. Zu einem körperlichen Angriff auf den Zeugen W wäre es aber auch sonst nicht gekommen, zumal er, der Kläger, aufgrund vielfältiger orthopädischer Leiden und seiner körperlichen Unterlegenheit dazu ohnehin nicht in der Lage gewesen wäre. Er, der Kläger, neige nicht zur Gewalttätigkeit, wenn er auch hin und wieder Prügel angedroht habe. Er habe in seinem Arbeitsleben noch keinen Kollegen tätlich angegriffen, habe sich in dieser Hinsicht vom Zeugen Weiser allerdings provoziert gefühlt. Dieser habe nämlich auf seinem Stapler gesessen, die Arme verschränkt, den Kopf eingezogen, die Augen geschlossen, und auf ihn, den Kläger, den Eindruck gemacht, er wolle von ihm geschlagen werden.
Der Kläger verweist nochmals darauf, dass die von ihm im damaligen Zeitraum einzunehmenden Medikamente ausweislich der Beipackzettel als Nebenwirkung eine erhöhte Reizbarkeit nach sich zögen.
In rechtlicher Hinsicht vertritt der Kläger die Auffassung, dass abschließend eine Interessenabwägung durchzuführen sei, die nicht zu seinen Lasten ausgehen könne.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Arbeitsgerichts Aachen vom 14.01.2002 unter Aktenzeichen 8 Ca 1999/01 d festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten weder fristlos zum 11.04.2001 noch fristgerecht zum 31.08.2001 beendet wurde.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung des Klägers zurückzuweisen...