Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitsunfähigkeit wegen Alkoholabhängigkeit. Alkoholabhängigkeit und Krankheit. Selbstverschuldete Arbeitsunfähigkeit und Entgeltfortzahlung
Leitsatz (amtlich)
Bei einer Arbeitsunfähigkeit aufgrund langjähriger Alkoholabhängigkeit ist regelmäßig davon auszugehen, dass es sich um eine Krankheit handelt, die nicht vom Arbeitnehmer i.S.v. § 3 Abs. 1 S. 1 EFZG verschuldet ist (abweichend von der Rechtsprechung des BAG, vgl. etwa Urteil vom 27.05.1992 - 5 AZR 297/91).
Normenkette
EFZG § 3 Abs. 1; SGB X § 115 Abs. 1; BRTV § 15
Verfahrensgang
ArbG Köln (Entscheidung vom 29.05.2013; Aktenzeichen 9 Ca 9134/12) |
Nachgehend
Tenor
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin aus übergegangenem Recht (§ 115 Abs. 1 SGB X) Entgeltfortzahlung schuldet.
Die Klägerin ist eine gesetzliche Krankenkasse. Ihr Mitglied, Herr L war von 2007 bis zum 30.12.2011 bei der Beklagten beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet der allgemeinverbindliche Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe (BRTV) Anwendung, der in § 15 eine zweistufige Ausschlussfrist von jeweils zwei Monaten vorsieht.
Ab dem 23.11.2011 war der alkoholabhängige Herr L infolge eines Sturztrunks für über zehn Monate arbeitsunfähig erkrankt. Er wurde am 23.11.2011 mit einer Alkoholvergiftung (4,9 Promille) bei völliger körperlicher und geistiger Bewegungslosigkeit ins S . F H eingeliefert, wo er künstlich beatmet werden musste. Vom 29.11.2011 bis 15.01.2012 war er in stationärer Behandlung. In "sozialmedizinischen Beurteilung" des "sozialmedizinischen Gutachtens" vom 14.05.2013 (Bl. 60 ff. d. A.) heißt es u. a.:
"Bei dem Versicherten besteht aufgrund der vorliegenden medizinischen Unterlagen zweifelsfrei eine langjährige, chronische Alkoholkrankheit mit den typischen Folgeerkrankungen wie z.B. die äthyltoxische Leberzirrhose mit Gallenkomplikationen. Aus den vorliegenden Unterlagen geht hervor, dass der Versicherte bereits zweimal eine stationäre Entzugstherapie durchgeführt hat. Es ist jedoch offensichtlich immer wieder zu Rückfällen gekommen und somit auch zu dem Alkoholexzess am 23.11.2011, der bei dem Versicherten einen, komatösen, beatmungspflichtigen Zustand hervorrief bei respiratorischer Insuffizienz infolge der Alkoholintoxikation. Im Rahmen der notwendigen Langzeitbeatmung kam es dann zu den typischen Komplikationen im Verlauf, wie tubusassoziierte, nosokomiale Pneumonie, Aspirationspneumonie und nosokomialer Sinusitis maxilaris.
Auch die hepato-bilären Komplikationen sind, zumindest zum Teil, Folge der langjährigen, exzessiven Alkoholkonsums (Leberzirrhose).
Es ist hieraus zu folgern, dass der intensive Alkoholkonsum, der am 23.11.2011 zur stationären Behandlungsnotwendigkeit und zur Arbeitsunfähigkeit führte im Rahmen einer langwierigen, chronischen Erkrankung (Alkoholkrankheit) erfolgte und nicht willentlich durch den Versicherten hätte verhindert oder vermieden werden können (-- Suchtdruck). Selbstverschulden ist somit medizinisch auszuschließen." (Bl. 62, 63 d.A.)
Mit Schreiben vom 28.11.2011 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos. Hiergegen erhob Herr L Kündigungsschutzklage. Die Klägerin leistete an ihn für den Zeitraum 29.11.2011 bis 30.12.2011 Krankengeld i. H. v. 1.303,36 € (32 Tage x 40,73 €). Mit Schreiben vom 05.03. 2012 erklärte die Beklagte gegenüber der Klägerin, dass sie für den Fall, dass das Arbeitsverhältnis durch Urteil oder Vergleich im Arbeitsgerichtsverfahren verlängert würde, auf die Einrede des Lohnverfalls verzichte. Am 21.06.2012 einigten die Beklagte und Herr L im Kündigungsschutzverfahren auf eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.12.2011.
Mit Schreiben vom 18.07.2012 verlangte die Beklagte von Herrn L Auskunft über "alle für die Entstehung der behaupteten Alkoholabhängigkeit erheblichen Umstände". Herr L reagierte darauf nicht. Die Klägerin machte mit Schreiben vom 19.07.2012 ihre Ansprüche auf Entgeltfortzahlung aus übergegangenem Recht in Höhe von 1.306,36 € gegenüber der Beklagten geltend.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Es hat zur Begründung ausgeführt, der Klägerin stehe aus übergegangenem Recht gemäß §§ 3 ff. EFZG, 115 Abs. 1 SGB X der geltend gemachte Entgeltfortzahlungsanspruch zu. Der Anspruch sei nicht nach § 15 BRTV verfallen, da beide Stufen der Ausschlussfrist bereits durch die Kündigungsschutzklage des Herrn L gewahrt seien. Dem Entgeltfortzahlungsanspruch stünde nicht der Einwand des Verschuldens an der Arbeitsunfähigkeit (§ 3 Abs. 1 EFZG) entgegen. Die Arbeitsunfähigkeit des Herrn L vom 23.11.2011 bis 30.12.2011 sei nicht deshalb als selbstverschuldet anzusehen, weil die zu Grunde liegende Alkoholabhängigkeit verschuldet herbeigeführt worden sei. Abweichend von den durch das Bundesarbeitsgericht aufgeste...