Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss des Annahmeverzugs eines Arbeitgebers mangels Leistungsfähigkeit eines Arbeitnehmers im Hinblick auf die arbeitsvertraglich geschuldete Tätigkeit
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch aus dem § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XI geht über den allgemeinen Anspruch auf eine leidensgerechte Beschäftigung aus § 241 BGB hinaus. 2. Der Arbeitgeber hat schuldhaft seine Pflichten aus dem § 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB XI verletzt, indem er anstelle dem schwerbehinderten Arbeitnehmer eine Vertragsänderung im Hinblick auf eine Tätigkeit im Lager anzubieten bzw. eine dahingehende Änderungskündigung auszusprechen, eine sozial nicht gerechtfertigte Änderungskündigung im Hinblick auf eine Tätigkeit als Mitarbeiter im Integrationspool aussprach.
Normenkette
BGB § 615 S. 1, § 297; SGB IX § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 1; BGB § 611a Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Köln (Entscheidung vom 04.08.2023; Aktenzeichen 19 Ca 1083/23) |
Tenor
1. Die Berufungen des Klägers und der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 04.08.2023 - Az. 19 Ca 1083/23 - werden zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 39 % und die Beklagte zu 61 %.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um Zahlungsansprüche des Klägers.
Die Beklagte ist ein Nahverkehrsunternehmen und beschäftigt 4.156 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Der am 1977 geborene, schwerbehinderte Kläger ist ausgebildeter Kfz-Service-Techniker und bei der Beklagten seit dem 29.09.2009 auf Basis des Arbeitsvertrages vom 18./24.09.2009 (Bl. 107 ff. der erstinstanzlichen Akte) als "Fahrer im Fahrdienst" beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis findet kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel der Spartentarifvertrag Nahverkehrsbetriebe (TV-N NW) Anwendung. Der Kläger war zunächst als Busfahrer tätig und in die EG 5 eingruppiert.
Am 21.01.2016 wurde der Kläger während seiner beruflichen Tätigkeit Opfer eines Raubüberfalles, aufgrund dessen er eine posttraumatische Belastungsstörung erlitt und bis zum 10.01.2020 arbeitsunfähig war. Am 19.12.2019 fand eine arbeitsmedizinische Untersuchung statt, die zu dem Ergebnis kam, dass der Kläger als Bus- oder Bahnfahrer in der Personenbeförderung sowie im Bereich der Fahrgastsicherheit, dem Fahrgastservice und als Fahrausweisprüfer auf Dauer nicht mehr einsatzfähig sei. Im Hinblick auf Rangiertätigkeiten mit Bus und Bahn kam die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass der Kläger befristet nicht tauglich sei und eine weitere Prüfung in einem halben Jahr stattzufinden habe (vgl. die ärztliche Bescheinigung auf Bl. 113 der erstinstanzlichen Akte). Beide Parteien ziehen die Richtigkeit der entsprechenden arbeitsmedizinischen Befunde nicht in Zweifel.
Die Betriebsärztin informierte die Personalabteilung der Beklagten über das Ergebnis der Untersuchung. In der Folge kam es zu einem Gespräch zwischen dem Kläger und Frau B B, die bei der Beklagten als stellvertretende Leiterin des Integrationspools tätig war. Frau B fragte den Kläger, ob er sich vorstellen könne, im Lager zu arbeiten, was dieser bejahte. Die weiteren Einzelheiten des Gesprächs sind zwischen den Parteien streitig. In der Folge wurde der Kläger ab der Beendigung seiner Arbeitsunfähigkeit von der Beklagten bis einschließlich 31.03.2021 durchgängig im Lager beschäftigt. Obgleich die vom Kläger im Lager ausgeführten Tätigkeiten mit der EG 3 des TV-N NW bewertet waren, vergütete die Beklagte ihn weiter nach der EG 5.
Die Beklagte hat mit dem für den Beschäftigungsbetrieb des Klägers gebildeten Betriebsrat am 20.03.2009 eine "Betriebsvereinbarung Integrationspool" (Bl. 126 ff. der erstinstanzlichen Akte) abgeschlossen. Ziel der Betriebsvereinbarung ist es, mit Mitarbeitenden, die infolge von Restrukturierungsmaßnahmen oder aus gesundheitlichen Gründen ihren Arbeitsplatz dauerhaft verlieren, neue Arbeitsverträge als "Beschäftigte des Integrationspools" abzuschließen und ihnen eine adäquate neue Tätigkeit zu vermitteln. Dabei können die Mitarbeitenden befristet auf unterschiedlichen Stellen im Rahmen einer "internen Zeitarbeitsfirma" eingesetzt und gegebenenfalls weiterqualifiziert werden.
Mit Schreiben vom 14.02.2020 bot die Beklagte dem Kläger eine einvernehmliche Änderung seines Arbeitsvertrages dahingehend an, dass er als Mitarbeiter im Integrationspool zu einer Vergütung nach der EG 3 tätig werden sollte. Dieses Angebot lehnte der Kläger ab.
Unter dem 06.10.2020 sprach die Beklagte gegen den Kläger eine Änderungskündigung aus, indem sie das bestehende Arbeitsverhältnis zum 31.03.2021 kündigte und ihm gleichzeitig anbot, ihn ab dem 01.04.2021 als Mitarbeiter im firmeneigenen Integrationspool mit der EG 3 zu beschäftigen. Das unterbreitete Änderungsangebot nahm der Kläger nicht unter Vorbehalt an. Gegen die Kündigung erhob der Kläger Kündigungsschutzklage, der das Arbeitsgericht Köln mit Urteil vom 11.11.2021 (Az. 11 Ca 7094/20) stattgab. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten wies das Landesarbeitsgericht ...