Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichteinladung eines behinderten Bewerbers zum Vorstellungsgespräch beim öffentlichen Arbeitgeber. Keine Formvorschriften für die Einladung eines schwerbehinderten Menschen zum Vorstellungsgespräch. Darlegungs- und Beweislastverteilung für eine Benachteiligung nach § 22 AGG

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Verletzung der in § 165 Satz 3 SGB IX geregelten Verpflichtung eines öffentlichen Arbeitgebers, einen schwerbehinderten Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, begründet regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der Behinderung. Diese Pflichtverletzung ist nämlich grundsätzlich geeignet, den Anschein zu erwecken, an einer Beschäftigung schwerbehinderter Menschen nicht interessiert zu sein.

2. Von einem Desinteresse des öffentlichen Arbeitgebers an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen ist nicht auszugehen, wenn der Arbeitgeber eine Einladung ordnungsgemäß auf den Weg gebracht hat. Das Gesetz sieht keine bestimmte Form der Einladung vor. Insbesondere ist der öffentliche Arbeitgeber nicht verpflichtet, die Einladung förmlich zuzustellen.

3. Der schwerbehinderte Bewerber hat nach § 22 AGG die Indizien zu beweisen, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten Grundes vermuten lassen. Das gilt auch für die Behauptung, nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden zu sein. Da es sich um den Beweis einer negativen Tatsache handelt, trifft den Prozessgegner in der Regel eine sekundäre Darlegungslast, wenn die primär darlegungsbelastete Partei keine nähere Kenntnis der maßgeblichen Umstände und auch keine Möglichkeit zur weiteren Sachverhaltsaufklärung hat, während dem Prozessgegner nähere Angaben dazu ohne weiteres möglich und zumutbar sind. Der Beweispflichtige genügt dann der ihm obliegenden Beweispflicht, wenn er die gegnerische Tatsachenbehauptung widerlegt oder ernsthaft in Frage stellt.

 

Normenkette

AGG §§ 1, 6 Abs. 1, § 7 Abs. 1, § 15 Abs. 2, § 22; SGB IX § 164 Abs. 2, § 165; ZPO § 138 Abs. 4, § 253 Abs. 2, § 373

 

Verfahrensgang

ArbG Schwerin (Entscheidung vom 30.01.2019; Aktenzeichen 4 Ca 1615/18)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 01.07.2021; Aktenzeichen 8 AZR 297/20)

 

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Schwerin vom 30.01.2019 - 4 Ca 1615/18 - wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

2. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Zahlung einer Entschädigung wegen Benachteiligung aus Gründen einer Behinderung, anknüpfend an die Pflicht des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung zum Vorstellungsgespräch.

Der im November 1987 geborene, ledige Kläger beendete seine Schulausbildung im Juli 2007 mit dem Abitur in der Fachrichtung Informations- und Kommunikationstechnologie. Nach Ableistung des Grundwehrdienstes nahm er am 01.09.2008 eine Laufbahnausbildung im gehobenen Dienst der Bundespolizei auf. Im August 2011 bestand er die Laufbahnprüfung des gehobenen Polizeivollzugsdienstes in der Bundespolizei mit der Note "befriedigend" und erwarb den akademischen Grad "Diplom-Verwaltungswirt (FH)". Anschließend war er bis zum 13.05.2012 als Polizeikommissar bei der Bundespolizei Inspektion Flughafen M. tätig. Vom 14.05.2012 bis zum 31.12.2012 arbeitete er im Straßenverkehrsamt des Landkreises Z. als Sachbearbeiter Großraum-/Schwerverkehr. Am 01.10.2012 nahm er an der Universität K., Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, ein Studium zum Master of Public Administration auf. Vom 01.01.2013 bis zum 30.06.2014 war der Kläger als Sachbearbeiter für Personalangelegenheiten beim Vogtlandkreis beschäftigt. Dem folgte ab 01.07.2014 eine befristete Tätigkeit als Organisator im kommunalen Bereich. Im Mai 2015 bestand der Kläger die Masterprüfung zum Master of Public Administration. Vom 21.03.2016 bis zum 07.07.2017 war er sodann befristet als Leiter des Bürgerbüros tätig und vom 08.07.2017 bis zum 31.01.2018 als Wirtschaftsförderer. Der oder die letzten Arbeitgeber sind im Lebenslauf nicht namentlich benannt. Mittlerweile ist der Kläger als Mitarbeiter im Wachdienst tätig.

Die beklagte Stadt schrieb im Januar 2018 über das Portal "Interamt.de" die Vollzeit-Stelle einer/eines Kämmerin/Kämmerers mit einer Eingruppierung nach Entgeltgruppe 11 TVöD-VKA aus. Auf diese Stelle bewarb sich der Kläger mit dem per E-Mail übersandten Schreiben vom 31.01.2018, das mit Anlagen insgesamt 55 Seiten umfasste. Eine Wohnanschrift teilte der Kläger in der Bewerbung nicht mit, sondern gab lediglich eine Postfachadresse in Z. an. In dem Bewerbungsanschreiben heißt es u. a.:

"...

Den von Ihnen dargestellten Aufgaben bin ich gewachsen und würde mich freuen, sie bewältigen zu dürfen. Meine Gleichstellung mit Schwerbehinderten hat keinen Einfluss auf meine Arbeitsleistung bei dieser Stelle. Auf eine persönliche Vorstellung freue ich mich sehr und verbleibe,

mit freundlichen Grüßen

..."

Die Vorstellungsgespräche für die Stellenbesetzung fanden am 21.02.2018 statt.

Mit Schreiben vom 14.03.2018 sandte die Beklagte dem Kläger die Bewerbungsu...

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