Entscheidungsstichwort (Thema)
Vergütungsanspruch für Umkleide- und Wegezeiten in der Lebensmittelindustrie. Schätzung des entscheidungserheblichen Zeitaufwands durch das Gericht
Leitsatz (amtlich)
1. Die zum Umkleiden in einem Produktionsbetrieb der Lebensmittelindustrie benötigte Zeit sowie die Wegezeit, die zum Abholen und Ablegen der Dienstkleidung benötigt wird und die Wegezeit zur Umkleidestätte ist zu vergüten. Hierzu zählt auch die Zeit zur Nutzung eines Spindes zur Verwahrung der Privatkleidung.
2. Der Arbeitnehmer trägt grundsätzlich die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass Umkleide- und Wegezeiten angefallen sind und dass diese im geltend gemachten Umfang erforderlich waren.
3. Steht fest, dass Umkleide- und Wegezeiten auf Veranlassung des Arbeitgebers entstanden sind, kann das Gericht die erforderliche Umkleide- und damit verbundene Wegezeit nach § 287 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO schätzen. Die für eine Schätzung unabdingbaren Anknüpfungstatsachen muss derjenige, der den Erfüllungsanspruch geltend macht, darlegen und beweisen.
4. Zur Feststellung der Anknüpfungstatsachen für eine Schätzung kann auch ein Sachverständigengutachten, welches eine der Parteien einholte, dienen, soweit die andere Partei keine substantiierten Einwendungen dagegen vorgetragen hat.
Normenkette
BGB § 611; ZPO § 287 Abs. 2; BGB § 611a Abs. 2; ZPO § 287 Abs. 1 Sätze 1-2
Verfahrensgang
ArbG Schwerin (Entscheidung vom 20.04.2017; Aktenzeichen 5 Ca 1023/16) |
Tenor
1. Die Berufungen gegen das am 20.04.2017 verkündete Urteil des Arbeitsgerichtes Schwerin mit dem Aktenzeichen 5 Ca 1023/16 werden zurückgewiesen.
2. Von den Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin 64 %, die Beklagte die verbleibenden 36 %.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Vergütung für Umkleide- und innerbetriebliche Wegezeiten.
Die Klägerin arbeitet bei der Beklagten in der Lebensmittelproduktion an deren Standort in L.. Die Klägerin wird dort überwiegend im Bereich der Produktverpackung eingesetzt. Innerhalb der Produktionsanlagen müssen alle Arbeitnehmer der Beklagten auch aufgrund der Hygienevorgaben in der Lebensmittelproduktion eine Schutzkleidung tragen. Zu diesem Zwecke muss die Klägerin ihre gesamte Oberbekleidung inklusive der Schuhe wechseln. Dies ist nötig, da sonst Verunreinigungen in die Lebensmittel gelangen können. Die Schutzkleidung, die die Arbeitnehmer tragen, wird ihnen von der Beklagten zur Verfügung gestellt. Ebenfalls stellt die Arbeitgeberseite Räume, ausgestattet mit Spinden, Waschbereiche und Bereiche, in denen die Mitarbeiter entsprechende gereinigte Wäsche in Empfang nehmen und nach Beendigung ihrer Arbeit verschmutzte Wäsche abgeben, zur Verfügung. Die Arbeitszeit wird durch eine "Stechuhr" nach dem Umkleidebereich und vor der Produktionshalle gemessen. Die Umkleidekabinen für Männer und Frauen befinden sich auf unterschiedlichen Etagen. Weibliche Mitarbeiter haben einen um zwei Treppen zu je 11 Stufen kürzeren Weg.
Bei allen Mitarbeitern, die im Hygienebereich eingesetzt sind, ergibt sich folgender Ablauf vor und nach der Schicht: Zunächst geht der Arbeitnehmer durch das Werktor, begibt sich sodann zum Treppenhaus im Produktionsgebäude. Er geht dort zum Wäscheschrank, schließt den Wäscheschrank auf, entnimmt saubere Arbeitskleidung und verschließt den Wäscheschrank. Sodann geht der Mitarbeiter die Treppe entlang über den Flur zu einem Spind, öffnet den Spind, zieht sich um, verschließt die Spindtür und geht an den Schließfächern für Wertgegenstände vorbei zum Waschplatz, setzt dort das Haarnetz auf und geht weiter zur Stechuhr, wo die Zeit erfasst wird. Zum Teil wird von den Mitarbeitern auf dem Weg zum Waschplatz ein Wertfach geöffnet, Wertsachen, wie Schlüssel, Geldbörsen, Mobiltelefone oder Uhren sowie Schmuck werden dort verstaut und das Wertfach wird wieder versperrt. Zum Teil werden am Waschplatz die Hände gewaschen und mit einem Papierhandtuch getrocknet. Vor Betreten des Hygienebereiches sind die Hände zu desinfizieren. Bei Schichtende gehen die Mitarbeiter nach dem Bedienen der Stechuhr zum Waschtisch. Teilweise werden dort die Hände gewaschen und abgetrocknet. Mitarbeiter, die das Wertfach nutzen, entnehmen diesem die Wertsachen und verschließen das Wertfach wieder. Sämtliche Mitarbeiter gehen weiter zum Spind, wobei sich ein Teil der Mitarbeiter dort direkt umkleidet, den Spind wieder verschließt, die Schmutzwäsche zu einem Container bringt und sodann über das Treppenhaus das Betriebsgelände verlässt. Zum Teil duschen Mitarbeiter nach dem Auskleiden und vor dem Ankleiden in die Alltagskleidung und verlassen - nach dem Ablegen der verschmutzten Dienstkleidung - das Betriebsgelände.
Im hier streitgegenständlichen Zeitraum vom 01.02.2014 bis 03.04.2015 war die Klägerin an insgesamt 234 Arbeitstagen tätig. Der Stundenlohn der Klägerin betrug bis einschließlich Juni 2014 14,32 € brutto je Stunde, ab Juli 2014 14,75 € brutto je Stunde.
Die Klage ist ä...