Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Ermittlung der Mehrarbeit mit Berücksichtigung von Urlaubs- und Feiertagen und sonstiger Freistellungszeiten. Unionsrechtliche Bewertung der Arbeitszeiten unter Berücksichtigung der Urlaubstage. Gutschrift ausgefallener Arbeitszeit nach dem Entgeltausfallprinzip zur Ermittlung der Mehrarbeit
Leitsatz (amtlich)
1. § 7 des Manteltarifvertrages für den Einzelhandel im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (MTV) ist derart auszulegen, dass es für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, nicht allein auf tatsächlich geleistete Arbeitszeit ankommt, sondern auch aufgrund Urlaubs, eines Feiertags und ehrenamtlicher Tätigkeit ausgefallene Arbeitszeit Berücksichtigung findet.
2. Artikel 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist im Licht von Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung in einem Tarifvertarg entgegensteht, nach der für die Berechnung, ob die Schwelle der zu einem Mehrarbeitszuschlag berechtigenden Arbeitszeit erreicht ist, die Stunden, die dem vom Arbeitnehmer in Anspruch genommenen bezahlten Jahrsurlaub entsprechen, nicht als geleistete Arbeitsstunden berücksichtigt werden (EUGH, Urteil vom 13.01.2022 - C-514/20 - Rn. 46, juris).
3. Das Entgeltausfallprinzip erfordert, dass einem Arbeitszeitkonto auch infolge eines Feiertags oder der Erbringung ehrenamtlicher Tätigkeit i.S.v. § 8 Abs. 8 MTV ausgefallene Arbeitszeit gutgeschrieben und bei der Ermittlung des Schwellenwertes zur Überschreitung der regelmäßigen tariflichen Arbeitszeit zur Erlangung eines Mehrarbeitszuschlags berücksichtigt werden muss.
Leitsatz (redaktionell)
Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.
Normenkette
RL 2003/88/EG Art. 7 Abs. 1; GRCh Art. 31 Abs. 2; EFZG § 2; MTV Einzelhandel Mecklenburg-Vorpommern §§ 7, 5, 8
Verfahrensgang
ArbG Stralsund (Entscheidung vom 04.12.2019; Aktenzeichen 3 Ca 284/18) |
Tenor
I.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Stralsund vom 04.12.2019 zum Aktenzeichen 3 Ca 284/18 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
II.
Das Urteil wird nach Klageänderung wie folgt neu gefasst:
Das Versäumnisurteil vom 07.01.2019 wird unter Ziffer 1. neu gefasst, so dass es lautet:
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 13,84 Euro brutto zu zahlen.
III.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Zahlung von Mehrarbeitszuschlägen.
Die Klägerin war seit August 1997 als Mitarbeiterin im Verkauf bzw. als Visual Merchandiser mit einer regelmäßigen Arbeitszeit vom 39 Stunden pro Woche bei der Beklagten beschäftigt und ist zwischenzeitlich aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschieden. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit die Tarifverträge des Einzelhandels Mecklenburg-Vorpommern Anwendung. In den monatlichen Arbeitszeitnachweisen wurde eine tägliche Sollarbeitszeit vom 7,8 Stunden zugrunde gelegt. Für Tage, an denen die Klägerin tatsächlich keine Arbeitsleistung erbracht hat, zum Beispiel Urlaubstage, Feiertage, hat das System statt 7,8 Stunden stets 8 Stunden ausgewiesen. Die wöchentliche Arbeitszeit wurde in diesem Fall von Montag bis Donnerstag mit 8 Stunden und am Freitag mit 7 Stunden erfasst.
Für das Arbeitsverhältnis der Parteien wurde ein Arbeitszeitkonto geführt. Kam es zur Überschreitung der wöchentlichen Arbeitszeit vom 39 Stunden, erhielt das Arbeitszeitkonto eine Gutschrift in Form eines Mehrarbeitszuschlages in Höhe von 25% pro Mehrarbeitsstunde. Bei der Ermittlung, ob 39 Stunden pro Woche überschritten sind, wurden Tage, an denen eine tatsächliche Arbeitsleistung z.B. infolge Urlaub oder Feiertag unterblieben war, nicht als Arbeitszeit berücksichtigt.
Der zwischen dem Einzelhandelsverband Nord e.V. und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) Landesbezirk Nord mit Gültigkeit ab 01.01.2014 geschlossene Manteltarifvertrag für den Einzelhandel im Bundesland Mecklenburg-Vorpommern (fortan: MTV) lautet unter anderem:
§ 5
Arbeitszeit
1. Die regelmäßige tarifliche wöchentliche Arbeitszeit ausschließlich der Pausen beträgt 39 Stunden. Das gilt auch für Jugendliche.
Hiervon kann durch Betriebsvereinbarung oder in Betrieben ohne...