Entscheidungsstichwort (Thema)

Höhe des angemessenen Nachtzuschlags i.S. von § 6 Abs. 5 ArbZG. Wirksamkeit einer Verfallklausel

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die gesetzliche Regulierung der Nachtarbeit in § 6 ArbZG beruht auf der arbeitswissenschaftlichen Erkenntnis, dass regelmäßige Nachtarbeit gesundheitsschädlich ist. Die Schädigung tritt allerdings nicht im engen zeitlichen Zusammenhang zur Nachtarbeit auf, sondern sie wirkt sich im Regelfall erst Jahre oder gar Jahrzehnte später aus. Das erhöht die Gefahr, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber die gesundheitlichen Fernwirkungen regelmäßiger Nachtarbeit unterschätzen.

2. Bezugspunkt der gesetzlichen Ausgleichsregelung in § 6 Absatz 5 ArbZG ist sowohl bei den zusätzlichen freien Tagen als auch bei dem Zuschlag auf das Entgelt die Gesundheit des Arbeitnehmers. Während man durch die freien Tage die Gesundheit des Arbeitnehmers zielgerichtet schützt, gleicht man mit dem Zuschlag in Geld die gesundheitlichen Risiken finanziell aus, die der Arbeitnehmer durch regelmäßiger Nachtarbeit ohne verkürzte Arbeitszeit in Form der Spätfolgen eingeht.

3. Die Steuerungsfunktion des Zuschlags auf das Entgelt bezogen auf die Häufigkeit der Einrichtung von Nachtarbeit tritt als möglicher zusätzlicher Effekt lediglich neben den eigentlichen Zweck des Zuschlags, den Arbeitnehmer für die Übernahme des Risikos wahrscheinlicher gesundheitlicher Spätfolgen zu entschädigen. Fällt der Steuerungseffekt bei Arbeiten, die notwendig nachts zu erledigen sind, weg, berührt das in keiner Weise die Bemessung der angemessenen Entschädigung des Arbeitnehmers für die Übernahme des Gesundheitsrisikos.

4. Selbst wenn man hilfsweise der Steuerungsfunktion des Zuschlags auf das Entgelt eine eigene Bedeutung beimessen wollte, kannte dies nicht dazu führen, den im Regelfall als angemessen anzusehenden Zuschlag in Höhe von 25 Prozent bei unausweichlicher Nachtarbeit zu halbieren oder gar noch weiter abzusenken. Denn die Vorstellung, man könne betriebswirtschaftlich geprägte Entscheidungen zur Einrichtung von Nachtarbeit dadurch beeinflussen, dass man die Nachtarbeit um 25 Prozent oder einen Aufschlag in ähnlicher Größenordnung verteuert, geht an der Realität vollständig vorbei.

 

Normenkette

ArbZG § 6 Abs. 5

 

Verfahrensgang

ArbG Stralsund (Entscheidung vom 21.03.2017; Aktenzeichen 13 Ca 83/16)

 

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichtes Stralsund - Kammern Neubrandenburg - vom 21. März 2017 (13 Ca 83/16) teilweise abgeändert und im Übrigen zur Klarstellung wie folgt neu gefasst.

1. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle in der Zeit vom 1. Januar 2015 bis zum 30. September 2017 angefallenen Arbeitsstunden der Klägerin in der Zeit zwischen 23.00 Uhr abends und 06.00 Uhr morgens mit einem Aufschlag von 20 Prozent auf das pro Stunde zustehende Entgelt zu vergüten, soweit sich nicht aus dem Arbeitsvertrag ein höherer Zuschlag ergibt.

2. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, alle in der Zeit ab dem 1. Oktober 2017 angefallenen und zukünftig anfallenden Arbeitsstunden der Klägerin in der Zeit zwischen 23.00 Uhr abends und 06.00 Uhr morgens mit einem Aufschlag von 20 Prozent auf das pro Stunde zustehende Entgelt zu vergüten, wahlweise der Klägerin Arbeitsbefreiung ohne Wegfall der Vergütung im Umfang von 20 Prozent einer Stunde für jede Arbeitsstunde in der Zeit zwischen 23.00 Uhr abends und 06.00 Uhr morgens zu gewähren, soweit sich nicht aus dem Arbeitsvertrag ein höherer Zuschlag ergibt.

3. Es wird festgestellt, dass auf die Verpflichtung nach Ziffern 1 und 2 der arbeitsvertraglich vereinbarte Nachtzuschlag als Teilerfüllungshandlung nur angerechnet werden kann, soweit dieser Zuschlag für Arbeiten in der Zeit zwischen 23.00 Uhr abends und 06.00 Uhr morgens gewährt wurde oder zukünftig gewährt wird.

II. Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

III. Die Kosten der Berufung trägt die Klägerin zu 1/5 und im Übrigen die Beklagte.

IV. Die Revision wird für die Klägerin zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Höhe des angemessenen Zuschlags für die Nachtarbeit nach § 6 Absatz 5 Arbeitszeitgesetz (ArbZG), die die Klägerin im Rahmen ihrer Altenpflegetätigkeit leistet. Soweit das Gericht die Revision zugelassen hat, dreht sich der Streit um die Frage, ob die arbeitsvertraglich vereinbarte Ausschlussfrist für Ansprüche aus der Zeit vor dem 1. Januar 2015 vor dem Gesetz Bestand hat.

Die Klägerin ist bei der Beklagten in A-Stadt seit 2011 als Pflegefachkraft beschäftigt. Die nicht tarifgebundene bundesweit aktive Beklagte betreibt in A-Stadt unter anderem die Einrichtungen W. und H.. Die Klägerin ist regulär in der W. eingesetzt, vertretungsweise wird sie auch im H. tätig.

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