Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsratsanhörung. Betriebsratsvorsitzender. Duldungsvollmacht. Hausbriefkasten. Kündigung. Urlaub. Vertretungsmacht. Vollmacht. Willenserklärung. Zugang
Leitsatz (amtlich)
1.
Auch dann, wenn dem Arbeitgeber bekannt ist, dass der Arbeitnehmer urlaubsbedingt ortsabwesend ist, kann ihm eine Kündigung auch während des Urlaubs durch Einwurf in den Hausbriefkasten am Wohnsitz zugehen. Der Zeitpunkt des Zugangs bestimmt sich dann danach, wann nach Einwurf der Sendung üblicherweise der Hausbriefkasten zum nächsten Mal geleert worden wäre.
2.
Das Beteiligungsverfahren beim Betriebsrat nach § 102 BetrVG ist auch dann abgeschlossen, wenn der Betriebsrat dem Arbeitgeber eine abschließende Stellungnahme zu dem Kündigungsbegehren zukommen lässt. Auch dann, wenn es sich dabei nicht um eine Zustimmung zur Kündigung handelt, braucht der Arbeitgeber zur Kündigung die Frist bis zur Zustimmungsfiktion wegen Zeitablaufs (§ 102 Abs. 2 Satz 2 oder 3 BetrVG) nicht abzuwarten.
3.
Auf Basis einer abschließenden Stellungnahme des Betriebsrates kann der Arbeitgeber allerdings dann nicht die Kündigung vor Ablauf der Frist zur Zustimmungsfiktion aussprechen, wenn die betriebsrätliche Stellungnahme für ihn erkennbar unter Verstoß gegen betriebsverfassungsrechtliche Verfahrensvorschriften zu Stande gekommen ist (z. B. Ladungsfehler des Vorsitzenden, Beschluss ohne Tagesordnung, Teilnahme eines befangenen Betriebsratsmitglieds an der Beschlussfassung, Beschlussfassung im Umlaufverfahren), denn in diesem Falle hat die Beschlussfassung keine innerbetriebsrätliche Bindungswirkung; sie könnte daher bis zum Ablauf der Frist zur Stellungnahme jederzeit durch eine neue Beschlussfassung ersetzt werden.
4.
Erfolgt die Kommunikation zwischen dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber entgegen der gesetzlichen Regelung in § 26 Abs. 2 BetrVG regelmäßig nicht über den Vorsitzenden, sondern über ein einfaches Mitglied des Betriebsrates (Protokollführerin), kann das im Einzelfall den Schluss zulassen, die Protokollführerin handele in Duldungsvollmacht für den Vorsitzenden. In einem solchen Falle kann das Beteiligungsverfahren wirksam durch Erklärung gegenüber dem bevollmächtigten Mitglied in Gang gesetzt werden; auch die Fristen aus § 102 Abs. 2 BetrVG beginnen in diesem Falle ab dem Zeitpunkt der Unterrichtung des bevollmächtigten Betriebsratsmitgliedes zu laufen.
Orientierungssatz
Revision zugelassen und eingelegt (BAG, 2 AZR 461/03)
Normenkette
BGB §§ 130, 164; BetrVG §§ 102, 26 Abs. 2; KSchG § 4
Verfahrensgang
ArbG Schwerin (Urteil vom 29.08.2002; Aktenzeichen 3 Ca 1575/02) |
Nachgehend
Tenor
1. Die Berufung wird auf Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
2. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer ordentlichen Arbeitgeberkündigung, bei der insbesondere streitig ist, ob der Betriebsrat ordnungsgemäß beteiligt wurde.
Die 1952 geborene Klägerin ist unter Anrechnung von Beschäftigungsjahren bei Rechtsvorgängern seit 1975 bei der Beklagten als technische Angestellte beschäftigt. Zuletzt verdiente sie 2.709,85 brutto monatlich.
Vor dem Hintergrund der Strukturkrise der Bauindustrie hat sich die Beklagte entschlossen vier ihrer insgesamt sieben Bauleiter zu entlassen. Dies hatte Auswirkungen auf den Aufgabenbereich der Klägerin, die vom Firmensitz der Beklagten aus die Bauleiter im Bereich der Kalkulation und Arbeitsvorbereitung unterstützte.
Die Beklagte hörte den bei ihr gebildeten Betriebsrat mit Schreiben vom 22.04.2002 zur Kündigung der Klägerin an (auf den als Anlage B 2 überreichten Anhörungsbogen, Blatt 27, wird Bezug genommen). Zeitgleich wurde dem Betriebsrat die "Begründung zur Kündigung ..." (Anlage B 3, Blatt 28; es wird Bezug genommen) überreicht und zwar ausweislich der Empfangsquittung (Blatt 28) am 22. April 2002, um 16.15 Uhr, durch Übergabe an Frau Rxxxxxxxxxx, einfaches Mitglied und Protokollführerin des Betriebsrates. Außerdem wurde übergeben ein Tabellenauszug mit den Sozialdaten der Klägerin (Anlage B 1, Blatt 26, es wird Bezug genommen).
In der Begründung zu den Kündigungen heißt es nach der Darstellung der wirtschaftlichen Zwänge, vor deren Hintergrund die unternehmerische Entscheidung gefallen ist, wörtlich (vgl. Blatt 29):
"Aus diesem Grunde wurde in der 16. Kalenderwoche 2002 beschlossen, insgesamt aus
dem Bereich der Bauleiter vier Mitarbeiter freizusetzen. Da auch im Bereich der Zuarbeit
zur Kalkulation und Arbeitsvorbereitung - wie oben erwähnt - der Arbeitsanfall geringer
ausfällt, werden die in diesem Bereich noch verbleibenden Arbeiten zukünftig durch die
Bauleiter und die Kalkulation erledigt werden. Hierdurch entfällt die Beschäftigungs-
möglichkeit für die bisher diese Tätigkeit ausübende [Klägerin]. Ebenso ist im
kaufmännischen Bereich der Arbeitsanfall geringer, was zur Folge hat, dass der mit Frau Mxxxxx befristet geschlossene Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert wird und ausläuft."
In teilweiser Abweichung...