Entscheidungsstichwort (Thema)
Betriebsbedingte Kündigung bei Betriebsstilllegung. Beginn der Betriebsänderung mit Auftragsübertragung durch Konzernunternehmen. Anspruch auf Nachteilsausgleich bei Beginn der Betriebsänderung vor Abschluss des Interessenausgleichsverfahrens
Leitsatz (redaktionell)
1. Für das Vorliegen eines Betriebsübergangs und den Schutz der Beschäftigten kommt es entscheidend darauf an, ob die wirtschaftliche Einheit in Form einer tatsächlichen Identitätswahrung übergeht; kommt es nicht zur Weiterbeschäftigung des für die Identitätswahrung relevanten Anteils der Beschäftigten, nutzt die Auftragsnachfolgerin gerade nicht die von der alten Auftragnehmerin in der personellen Verbundenheit geschaffene Organisationsstruktur.
2. Werden der Belegschaft Übernahmeangebote unterbreitet, haben es die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst in der Hand, einen Betriebsübergang herbeizuführen oder nicht; damit wird § 613a BGB nicht umgangen sondern es treten seine Voraussetzungen auf der Tatbestandsseite nicht ein.
3. Eine Betriebsänderung in Form der Stilllegung besteht in der Aufgabe des Betriebszwecks unter gleichzeitiger Auflösung der Betriebsorganisation für eine unbestimmte und nicht nur vorübergehende Zeit; die Durchführung der Betriebsänderung beginnt, sobald unumkehrbare unternehmerische Maßnahmen zur Auflösung der betrieblichen Organisation ergriffen werden, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn die bestehenden Arbeitsverhältnisse zum Zweck der Betriebsstilllegung gekündigt werden.
4. Wird die Kündigung erst zum 28.04.2012 ausgesprochen und damit jedenfalls nach Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen, ist gleichwohl nicht auf diesen Zeitpunkt abzustellen, wenn jedenfalls zum 29.02.2012 die Betriebsstilllegung bereits durch Kündigung des Auftrags und durch Übertragung auf eine neue Auftragnehmerin in der Durchführung begonnen hat, so dass bereits zu diesem Zeitpunkt feststeht, dass die Arbeitsplätze der Beschäftigten mangels anderer Anschlussbeschäftigungsmöglichkeiten nicht mehr bestehen werden.
5. Können beherrschende Unternehmen über Tochterunternehmen die betriebliche Grundlage der Arbeitgeberin entziehen und damit eine Betriebsstilllegung auslösen, kommt es nicht darauf an, ob die Arbeitgeberin selbst durch eine Maßnahme die Betriebsstilllegung ausgelöst hat oder aber das beherrschende Unternehmen im Rahmen der Konzernstrukturen.
6. Wird mit der Betriebsänderung bereits mit Ablauf des 29.02.2012 begonnen und ist zu diesem Zeitpunkt das Interessenausgleichsverfahren noch nicht abgeschlossen, verliert der Arbeitnehmer infolge der Betriebsänderung seinen Arbeitsplatz und hat damit Anspruch auf einen Nachteilsausgleichsanspruch gemäß § 113 Abs. 3 in Verbindung mit § 113 Abs. 1 BetrVG.
Normenkette
BGB § 613a; KSchG § 1; BetrVG §§ 111, 113; SGB IX § 89; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 3; BetrVG § 113 Abs. 1, 3; SGB IX § 89 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
ArbG München (Entscheidung vom 11.12.2012; Aktenzeichen 30 Ca 5213/12) |
Nachgehend
Tenor
1. Das Versäumnisurteil vom 15.05.2013 wird aufgehoben.
2. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts München (Az.: 30 Ca 5213/12) vom 11.12.2012 wird zurückgewiesen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger € 9.500,00 als Abfindung zu bezahlen.
4. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3, mit Ausnahme der Kosten der Säumnis des Klägers im Termin vom 15.05.2013. Diese trägt der Kläger.
5. Bezüglich der Verurteilung in Ziffer 3. wird die Revision zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit zweier ordentlicher Kündigungen sowie über einen Nachteilsausgleichsanspruch.
Der Kläger ist seit dem 01.02.1993 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgänger als Zeitungszusteller mit einem Bruttomonatsentgelt i.H.v. € 1.000,00 beschäftigt.
Bei der Beklagten handelt es sich um ein Unternehmen, dessen einziger Unternehmensgegenstand darin bestand, im Gebiet der Landeshauptstadt B-Stadt, Stadtteil Mitte für die Verlage E. und F. deren Zeitungen auszutragen und vergleichbare Dienstleistungen auszuführen.
Die Beklagte gehört zum Konzern der F. Einziger Auftraggeber für die Zustellung war die G. GmbH, ebenfalls eine Tochterfirma der F. Am 30.11.2011 kündigte die G. GmbH den Zustellungsdienstleistungsvertrag mit Wirkung zum 29.02.2012. Die Beklagte beschäftigte im Januar 2012 ca. 57 Arbeitnehmer und betrieb die Zustellung mittels dreier sogenannter Verteilstellen, wo sich die Zusteller Zeitungen zur Verteilung abholten.
Die Räumlichkeiten der Verteilstellen hatte die Beklagte angemietet. Ab dem März 2012 fand eine Anlieferung von Zeitungen an die Verteilstellen nicht mehr statt. Die Zusteller wurden ab diesem Zeitpunkt nicht beschäftigt.
Infolge der Vertragskündigung hatten die Gesellschafter der Beklagten, die H. GmbH und die I. GmbH, am 11.01.2012 beschlossen, den Geschäftsbetrieb der Beklagten zum 29.02.2012 vollständig einzustellen, insbesondere säm...