Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung wegen der Information von Kollegen über die Anwendbarkeit von Tarifverträgen. Unverhältnismäßigkeit wegen Fehlens einer einschlägigen Abmahnung. Klägerverhalten in anderen Rechtsstreitigkeiten. Auflösungsvertrag. Unverhältnismäßige Kündigung bei unterlassener Abmahnung. unbegründeter Auflösungsantrag der Arbeitgeberin wegen schriftsätzlicher Äußerungen

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Nach dem den Kündigungsschutz beherrschenden ultima-ratio-Prinzip ist der Arbeitnehmer bei einem pflichtwidrigen Verhalten vor einer außerordentlichen oder ordentlichen Kündigung grundsätzlich zunächst abzumahnen; § 314 Abs. 2 mit § 323 Abs. 1 BGB enthält den allgemeinen Rechtsgedanken, dass die Arbeitgeberin den Arbeitnehmer vor so einschneidenden Maßnahmen wie der einseitigen Vertragsaufhebung auf die Folgen des vertragswidrigen Verhaltens hinweisen muss.

2. Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG hat das Gericht nach einer erfolgreichen Kündigungsschutzklage auf Antrag der Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis aufzulösen, wenn Gründe vorliegen, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen Arbeitgeberin und Arbeitnehmer nicht erwarten lassen; an die Auflösungsgründe sind strenge Anforderungen zu stellen, da das Kündigungsschutzgesetz nach seiner Konzeption ein Bestandsschutz- und kein Abfindungsgesetz ist.

3. Bei der Prüfung von Erklärungen in laufenden Gerichtsverfahren ist zu berücksichtigen, dass diese durch ein berechtigtes Interesse des Arbeitnehmers gedeckt sein können; die Parteien eines Rechtsstreits dürfen zur Verteidigung von Rechten schon im Hinblick auf das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) in den Grenzen der Wahrheitspflicht alles vortragen, was als rechts-, einwendungs- oder einredebegründender Umstand prozesserheblich sein kann, jedoch nicht leichtfertig Tatsachenbehauptungen aufstellen, deren Unhaltbarkeit ohne Weiteres auf der Hand liegt.

4. Die vom Arbeitnehmer vertretenen Rechtsauffassungen mögen rechtlich unzutreffend und schwer nachvollziehbar sein; das allein reicht aber für eine bewusste Schädigung oder Schikane nicht aus.

 

Normenkette

KSchG § 1 Abs. 2 S. 1, § 9 Abs. 1 S. 2; GG Art. 103; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 2; BGB § 314 Abs. 2, § 323 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG München (Entscheidung vom 18.08.2011; Aktenzeichen 13 Ca 16550/09)

 

Tenor

1. Die Berufung der Beklagten gegen das Teilanerkenntnis- und Teilendurteil des Arbeitsgerichts München vom 18.8.2011 - 13 Ca 16550/09 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass Ziffer 2 lautet:

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger zu den Bedingungen des Arbeitsvertrages vom 31.1./9.2.2003 bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzverfahren weiterzubeschäftigen.

2. Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens trägt die Beklagte.

Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Beklagte 7/10 und der Kläger 3/10.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im vorliegenden Berufungsverfahren noch über die Rechtswirksamkeit einer ordentlichen Arbeitgeberkündigung, einen hilfsweisen Auflösungsantrag der Beklagten sowie die Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Klägers.

Der Kläger ist seit 15.3.2003 als Prüfungsleiter der internen Revision zu einem Bruttogehalt von zuletzt € 5.616,-- bei der Beklagten angestellt. In § 3 des Arbeitsvertrages vom 31.1./9.2.2003 (Bl. 917 ff d.A.) heißt es zur Tätigkeit und zum Aufgabengebiet:

"Wie besprochen werden wir Sie als

Manager Internal Audit

beschäftigen. Sie sind auch bereit, im Bedarfsfall andere, Ihnen zumutbare und Ihren Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechende Tätigkeiten auszuüben.

Die Übertragung eines neuen Aufgabenbereichs erfolgt ausschließlich in Ausübung des allgemeinen Direktionsrechts und erstreckt sich auch auf den vorübergehenden, zeitlich begrenzten Einsatz bei Gesellschaften/Unternehmen, auf die A GmbH wirtschaftlichen Einfluss ausübt oder die mit AA GmbH wirtschaftlich verbunden sind. Diese Tätigkeiten gelten als für AA GmbH erbracht.

Etwaige Ansprüche gegen die Gesellschaften/Unternehmen werden hierdurch nicht begründet." Die Beklagte ist eine Holdinggesellschaft mit Tochtergesellschaften in Deutschland, die sich auch mit Groß- und Außenhandel befassen. Sie beschäftigt etwa 50 Arbeitnehmer.

Der Kläger wurde erstmals am 22.12.2003 außerordentlich gekündigt und wird seither von der Beklagten nicht mehr beschäftigt. Es steht rechtskräftig fest, dass weder die außerordentliche Kündigung vom 22.12.2003 noch eine ordentliche Kündigung vom 22.12.2003 sowie eine außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung vom 10.8.2005 das Arbeitsverhältnis aufgelöst hat. Im Rechtsstreit betreffend u.a. die Kündigungen vom 22.12.2003 (8 Ca 402/04 beim Arbeitsgericht München bzw. 11 Sa 987/05 beim Landesarbeitsgericht München) wurde ein Auflösungsantrag des Beklagten abgewiesen. Im Prozess über die außerordentliche und hilfsweise ordentliche Kündigung vom 10.8.2005 hat das Bundesarbeitsgericht mit Urteil vom 8.10.2009 (2 AZR 682/08 - Juris) auf die Revision de...

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