Entscheidungsstichwort (Thema)
Einseitiges Leistungsbestimmungsrecht des Versorgungsschuldners bei der jährlichen Rentenanpassung. Schlüssiges wirtschaftliches Gesamtkonzept als Grundlage der abweichenden Rentenanpassung. Billiges Ermessen bei abweichenden Rentenanpassungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Vereinbaren die Tarifvertragsparteien ein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht bei der jährlichen Anpassung der Renten für den Fall, dass eine Anpassung der Renten aus der Sicht des Versorgungsschuldners nicht vertretbar ist, müssen objektive Umstände vorliegen und nachprüfbar sein, die - wie z. B. wirtschaftliche Umstände - zeigen, dass eine Anpassung der Renten nicht geboten ist.
2. Für die Notwendigkeit einer abweichenden Rentenanpassung muss ein unternehmerisches Gesamtkonzept dargelegt werden, das geeignet sein muss, die Wettbewerbsfähigkeit mittel- oder langfristig zu erhalten und zu steigern und die Marktposition zu stärken. Dies setzt die nachvollziehbare Darlegung des Gesamtkonzepts und sachlicher Gründe für die einzelnen Maßnahmen voraus.
3. Wird dem Versorgungsschuldner bei der Anpassung der Renten ein Leistungsbestimmungsrecht eingeräumt, muss die konkrete Entscheidung gem. § 315 Abs. 1 BGB billigem Ermessen entsprechen. Das ist der Fall, wenn alle wesentlichen Umstände des Falls abgewogen und die beiderseitigen Interessen angemessen berücksichtigt worden sind. Ob die Anpassungsentscheidung der Billigkeit entspricht, unterliegt der vollen gerichtlichen Kontrolle.
Normenkette
BetrAVG § 16; BGB § 315 Abs. 1, 3; TV betriebliche Versorgungsregelung § 6 Abs. 1 Fassung: 2002-09-14, Abs. 4 Fassung: 2002-09-14
Verfahrensgang
ArbG München (Entscheidung vom 15.01.2020; Aktenzeichen 20 Ca 5372/19) |
Tenor
1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts München vom 15.01.2020 - 20 Ca 5372/19 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
2. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Höhe der Anpassung einer der Klagepartei von der Beklagten gewährten Betriebsrente.
Die Klagepartei, die bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten tätig war, gehört zu dem berechtigten Personenkreis der nach dem Tarifvertrag über die betriebliche Versorgungsordnung - 01.04.85 - in der Fassung vom 14.09.2002 (Anlage B3 = Bl. 107 ff. d. A.; im Folgenden: TV VO) gewährten betrieblichen Altersversorgung. Seit dem 01.06.2001 erhält sie danach eine Altersrente, die in Höhe von 1 % des pensionsfähigen Arbeitsentgelts für jedes anrechnungsfähige Dienstjahr gewährt wird (§§ 2 Ziff. 1, 5 Ziff. 1.1). Diese Altersrentenleistung darf zusammen mit der Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung höchstens 70 % des durchschnittlichen monatlichen Bruttoeinkommens der letzten 12 Monate einschließlich der Sonderzahlungen betragen (§ 5 Ziff. 1.2 Abs. 6 TV VO).
Seit Beginn der Rentenzahlungen wurde die Rente wiederholt angepasst. Sie betrug im Juni 2015 ausweislich der Verdienststabrechnung (dort genannt als sog. VOFUE-Rente VO85; Anlage B12 = Bl. 151 d. A.) 1.194,18 € brutto monatlich.
Die Rechtsgrundlage für die Anpassung der Rente enthält § 6 TV VO wie folgt:
"§ 6 Anpassung der Renten
1. Die Renten werden jeweils entsprechend der gemäß § 49 AVG vorgegebenen Entwicklung der Renten der gesetzlichen Rentenversicherung angepasst.
2. Die Anpassung der Renten erfolgt zum gleichen Zeitpunkt, zu dem die Renten der gesetzlichen Rentenversicherung verändert werden.
(Der § 49 AVG ist durch Artikel 1 §§ 65 und 68 SGB VI neu gefasst worden. Die Änderung ist am 01.01.92 in Kraft getreten).
3. Die Renten werden angepasst, wenn der Versorgungsfall vor dem 01.12. des Vorjahres eingetreten ist.
4. Hält der Vorstand die Veränderung der Renten nach Ziffer 1 nicht für vertretbar, so schlägt er nach Anhören der Betriebsräte/des Gesamtbetriebsrates dem Aufsichtsrat zur gemeinsamen Beschlussfassung vor, was nach seiner Auffassung geschehen soll.
Die Beschlussfassung ersetzt die Anpassung gemäß Ziffer 1."
Die Renten in der gesetzlichen Rentenversicherung wurden seit 01.07.2015 wie folgt gesteigert:
01.07.2015 |
01.07.2016 |
01.07.2017 |
01.07.2018 |
01.07.2019 |
2,09717 % |
4,24512 % |
1,90476 % |
3,22269 % |
3,1845 % |
Tatsächlich passte die Beklagte die betriebliche Rente zum 01.07.2015 und 01.07.2016 um je 0,5 % und ab 01.07.2017 in Höhe der gesetzlichen Rentensteigerungsraten an.
Die Anpassung zum 01.07.2015 basierte nach einer mit E-Mail vom 15.06.2015 eingeleiteten Anhörung der örtlichen Betriebsräte und des Gesamtbetriebsrats (Anlage B9 = Bl. 129 ff. d. A.) auf einem Vorstandsbeschluss vom 26.08.2015. Der Aufsichtsrat der Beklagten fasste am 09.10.2015 einen entsprechenden Beschluss. Die Anpassung zum 01.07.2016 entschieden nach Anhörung des örtlichen Betriebsrats und des Gesamtbetriebsrats durch E-Mail vom 17.05.2016 (Anlage B16 = Bl. 157 ff. d. A.) der Vorstand der Beklagten am 20.06.2016 und ihr Aufsichtsrat am 22.06.2016.
Es ergaben sich damit gemäß § 6 Ziff. 1 und Ziff. 4 TV VO folgende Rentenbeträge:
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01.07.2015 |
01.07.2016 |
01.07.2017 |
01.07.2018 |
01.07.2019 |
§ 6 ... |