Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterrichtung ausländischer Arbeitnehmer über die Betriebsratswahl gem. § 24 Abs. 5 WO. Vorrang der persönlichen Stimmabgabe vor einer Briefwahl. Anordnung einer generellen Briefwahl durch den Wahlvorstand als Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften. Beeinflussung des Wahlergebnisses durch einen Verstoß gegen die Wahlvorschriften
Leitsatz (redaktionell)
1. Fehlende oder begrenzte Kenntnisse der deutschen Sprache erschweren den ausländischen Arbeitnehmern die Ausübung ihres aktiven und passiven Wahlrechts. § 2 Abs. 5 WO dient der Verwirklichung des elementaren demokratischen Grundsatzes der Gleichheit der Wahl. Eine Missachtung dieser Vorschrift berechtigt daher zur Anfechtung.
2. Der Gesetzgeber geht vom Vorrang der persönlichen Stimmabgabe vor Ort im Wahlraum nach § 12 WO aus. Eine Briefwahl dagegen hat der Gesetzgeber nur beschränkt und bedingt zugelassen (§ 24 WO). Die mit der Briefwahl verbundenen Unsicherheiten sind nach dem Willen des Gesetzgebers nur dann hinzunehmen, wenn räumliche Gegebenheiten dies zwingend erfordern, damit die Arbeitnehmer überhaupt die Möglichkeit zur Wahl haben.
3. Die Anordnung einer generellen Briefwahl zur Erreichung des Ziels einer möglichst umfassenden Wahlbeteiligung liegt nicht im Ermessen des Wahlvorstands. § 24 WO stellt eine Ausnahmevorschrift dar, die eng auszulegen ist. Die Fälle, in denen Briefwahl zulässig ist, sind dort abschließend aufgezählt. Es gibt dabei keinen Ermessensspielraum des Wahlvorstands.
4. Nach § 19 Abs. 1 BetrVG berechtigt ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften nicht zur Anfechtung der Wahl, wenn er das Wahlergebnis objektiv weder ändern noch beeinflussen konnte. Dafür ist entscheidend, ob bei einer hypothetischen Betrachtungsweise eine Wahl ohne den Verstoß gegen wesentliche Verfahrensvorschriften zwingend zu demselben Wahlergebnis geführt hätte.
Normenkette
ArbGG § 83 Abs. 1 S. 1; BetrVG § 3 Abs. 1-2, §§ 4, 19; WO § 2 Abs. 5, §§ 12, 24 Abs. 5
Verfahrensgang
ArbG Hannover (Entscheidung vom 10.05.2019; Aktenzeichen 7 BV 9/18) |
Nachgehend
Tenor
Die Beschwerden der Beteiligten zu 10) und 11) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Hannover vom 10. Mai 2019 - 7 BV 9/18 - werden zurückgewiesen.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl.
Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 11) ist ein Unternehmen der Automobilindustrie, das am Standort A-Stadt unter der Postanschrift S-Straße ein Werk zur Herstellung von Nutzfahrzeugen betreibt. Das mehrere Hektar große Werksgelände wird im Süden von der M-Straße, im Norden von der H-Straße, im Westen von der S-Straße und im Osten durch die S-Landstraße begrenzt. Das Werksgelände ist von einem geschlossenen Werkszaun umgeben. Der Zugang zum Werksgelände wird durch Tore ermöglicht, die durch den Werkschutz kontrolliert werden. Unmittelbar außerhalb des Werkszauns liegen der Originalteileversand (H-Straße 24), die Jahreswagenvermittlung (H-Straße 51) sowie das neue Kundencenter (Halle 42). Daneben betreibt die Arbeitgeberin noch mindestens neun weitere Betriebsstätten, die vom Werksgelände mehrere Kilometer entfernt sind.
Die Antragsteller zu 1) bis 9) sind langjährig beschäftigte Arbeitnehmer der Arbeitgeberin in dem Werk A-Stadt - S. Der damals amtierende Betriebsrat, dem der Antragsteller zu 1) als Mitglied angehörte, setzte durch Beschluss vom 18. Oktober 2017 einen Wahlvorstand für die im Jahr 2018 durchzuführende Betriebsratswahl ein. Der Wahlvorstand beschloss am 4. Dezember 2017 ausweislich seines Sitzungsprotokolls die schriftliche Stimmabgabe für alle Betriebsteile und Betriebe, die außerhalb des umschlossenen Werksgeländes liegen.
Der Wahlvorstand ließ an verschiedenen Stellen im Betrieb und in den auswärtigen Betriebsteilen ein Wahlausschreiben für die Betriebsratswahl aushängen. Danach sollte die Wahl durchgehend in der Zeit von Dienstag, den 17. April 2018, 9:00 Uhr bis Donnerstag, den 19. April 2019, 9:00 Uhr innerhalb des umzäunten Werksgeländes im O-B-Saal in Sektor 9, Hallengeschoss durchgeführt werden. In dem Wahlausschreiben vom 15. Januar 2018 heißt es auszugsweise:
13. Der Wahlvorstand hat für alle Betriebsteile und Kleinstbetriebe, die außerhalb des geschlossenen Werksgeländes liegen, die schriftliche Stimmabgabe beschlossen. Die Unterlagen zur schriftlichen Stimmabgabe werden den dort beschäftigten ArbeitnehmerInnen ohne Antrag zugesandt.
14. Die Briefwahlunterlagen müssen bis zum 19. April 2018, 09:00 Uhr beim Wahlvorstand eingegangen sein.
Innerhalb der im Wahlausschreiben genannten Frist (29. Januar 2018) wurden mindestens sechs Wahlvorschläge eingereicht, von denen der Wahlvorstand fünf Wahlvorschläge zuließ. Drei Vorschlagslisten, die der Antragsteller zu 1) als Listenvertreter anführte, beanstandete der Wahlvorstand und ließ sie nicht zu, nachdem der Antragsteller zu 1) die beanstandeten Mängel nicht abstellte. Von verschiedenen Antrags...