Entscheidungsstichwort (Thema)
Wirksamkeit einer Betriebsratswahl hinsichtlich Verstoßes gegen wesentliche Wahlvorschriften
Leitsatz (redaktionell)
§ 24 Abs. 2 WO BetrVG eröffnet durch das Tatbestandsmerkmal "voraussichtlich" einen weiten Anwendungsbereich der Norm. Diese stellt nicht auf die positive Kenntnis des Wahlvorstandes von individuellen Umständen ab, sondern auf die Kenntnis davon, dass ein Arbeitnehmer nach der Eigenart seines Beschäftigungsverhältnisses einer Gruppe von Arbeitnehmern angehört, bei denen die naheliegende Möglichkeit besteht, dass sie zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht im Betrieb anwesend sein werden. Werden die Wahlunterlagen übersandt, muss dies allerdings so zeitig im Vorfeld der Wahl erfolgen, dass den Wahlberechtigten eine Entscheidung über die aktive Wahlteilnahme noch möglich ist.
Normenkette
BetrVG § 19 Abs. 1
Verfahrensgang
ArbG Braunschweig (Entscheidung vom 13.07.2022; Aktenzeichen 3 BV 5/22) |
Tenor
1. Auf die Beschwerde des Betriebsrats (Beteiligter zu 10) und der Arbeitgeberin (Beteiligte zu 11) wird der Beschluss des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 13.07.2022 (3 BV 5/22) abgeändert.
Der Antrag der Antragsteller (Beteiligte zu 1 - 9) wird zurückgewiesen.
2. Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl.
Die zu 1 bis 9 beteiligten Antragsteller sind am Standort W-Stadt beschäftigte Mitarbeiter der zu 11 beteiligten Arbeitgeberin. Sie kandidierten bei der im Zeitraum vom 14.-18.03.2022 durchgeführten Betriebsratswahl, bei der insgesamt 8 Listen zur Wahl standen, für die Listen 2, 6 bzw. 7. Der Beteiligte zu 10 ist der aus der Wahl hervorgegangene Betriebsrat.
Nach der am 11.11.2021 betrieblich ausgehängten Bekanntmachung des Wahlausschreibens waren 67.341 Arbeitnehmer zur Wahl berechtigt, bei der ein 73-köpfiger Betriebsrat gewählt werden sollte.
Die Arbeitgeberin ist eine Automobilherstellerin, bei der zwischen der Produktion (sogen. direkter Bereich) und der Verwaltung (sogen. indirekter Bereich) unterschieden wird. Zum Zeitpunkt der Bekanntmachung des Wahlausschreibens galt infolge der Corona-Pandemie die betriebliche Regelung, dass die Möglichkeit zur mobilen Arbeit so weit wie möglich genutzt werden soll. Voraussetzung für mobile Arbeit war die Einbindung der Beschäftigten auch zu Hause in die elektronischen Kommunikationssysteme der Arbeitgeberin, insbesondere der Zugang zum unternehmensinternen Intranet und die Erreichbarkeit per E-Mail. Von der Möglichkeit mobiler Arbeit ausgenommen waren Arbeitnehmer deren Eigenart der Tätigkeit eine ausschließliche Anwesenheit im Betrieb erfordert, wie z. B. Mitarbeiter der Produktion und der Logistik.
Am Tag der Bekanntmachung des Wahlausschreibens durch Aushang informierten die Wahlvorstände sämtlicher Standorte der Arbeitgeberin per E-Mail über die Betriebsratswahlen 2022 und teilten den Beschäftigten unter Übersendung eines entsprechenden Links mit, dass aufgrund der Corona bedingten vollständigen oder nur zeitweisen Anwesenheit vieler Beschäftigter im Betrieb zusätzliche Informationsseiten zu betrieblichen Wahlen im Intranet eingerichtet würden, auf denen sich Beschäftigte ergänzend über Bekanntmachungen zum Wahlverfahren ihres jeweiligen Standortes informieren könnten.
Am 16.11.2021 ordnete die Arbeitgeberin für die Zeit ab 22.11.2021 vor dem Hintergrund absehbarer verschärfter gesetzlicher Regelungen zum Corona-Schutz an, dass Beschäftigte, die mobil arbeiten können und deren Anwesenheit im Betrieb nicht zwingend erforderlich ist (d. h. nicht business essential ist), "bis auf weiteres" mobil von zu Hause arbeiten müssen.
Nachdem die Ministerpräsidentenkonferenz wegen der Omikron-Variante des Corona-Virus weitere Maßnahmen beschlossen hatte, ordnete die Arbeitgeberin am 14.01.2022 die verpflichtende maximale Nutzung der mobilen Arbeit "vorerst analog der aktuell gültigen Corona-Arbeitsschutzverordnung bis zum 19.03.2022" an.
Am 18.01.2022 beschloss der neunköpfige Wahlvorstand daraufhin einstimmig, dass allen Beschäftigten, die grundsätzlich mobil arbeiten können, und dies auch bereits seit der Anweisung vom 16.11.2021 ganz oder teilweise getan haben, Briefwahlunterlagen ohne gesondertes Verlangen von Amts wegen zugesendet werden. Infolgedessen erhielten ca. 26.000 vorrangig im sogen. indirekten Bereich beschäftigte Wahlberechtigte Briefwahlunterlagen.
Nachdem Arbeitgeberin und Betriebsrat am 22.02.2022 und 01.03.2022 unter Hinweis auf eine gestörte Teileversorgung infolge der Corona Pandemie und des Ukrainekrieges einen anteiligen oder vollständigen Arbeitsausfall in bestimmten Unternehmensbereichen - auch für die Zeit der Stimmabgabe - angekündigt hatten, beschloss der Wahlvorstand alle von Kurzarbeit Betroffenen, die ihm durch Kostenstellen oder Abteilungskürzel (OE) genannt werden, der Briefwahl zuzuordnen
In der Zeit vom 08. bis 11.03.2022 erfolgten Nachmeldungen von kurzarbeitsbetroffenen Arbeitnehmern beim Wahlvorstand.
Insgesamt erhielten ca. 33.000 von Kurza...