Entscheidungsstichwort (Thema)

Anforderungen an die Berufungsbegründung. Umsetzung von EU-Richtlinien durch nationale Tarifverträge. Längere AÜG-Überlassungszeiten durch Tarifvertrag. Negative Koalitionsfreiheit

 

Leitsatz (amtlich)

§ 1 Abs.1b AÜG ist europarechtskonform und verstößt nicht gegen die Leiharbeitsrichtlinie der EU.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Berufungsbegründung muss die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Sie muss auf den zur Entscheidung stehenden Fall zugeschnitten sein und sich mit den rechtlichen und tatsächlichen Argumenten des angefochtenen Urteils befassen. Bloße formelhafte Wendungen oder Wiederholungen bisherigen Vorbringens reichen nicht aus.

2. Der Europäische Gerichtshof hält es grundsätzlich für unionsrechtlich zulässig, wenn EU-Richtlinien durch Tarifverträge umgesetzt werden. Der Mitgliedsstaat muss dabei aber gewährleisten, dass die in den Richtlinien enthaltenen Ziele eingehalten werden.

3. Den Tarifvertragsparteien ist in § 1 Abs. 1b Satz 3 AÜG gestattet, die Höchstgrenze der Überlassungsdauer nach dem AÜG von 18 Monaten um bis zum Dreifachen (= 54 Monate) zu überschreiten. Diese Überlassungsdauer beachtet noch das Merkmal der "vorübergehenden Arbeitnehmerüberlassung" und ist europarechtskonform.

4. Unter der negativen Koalitionsfreiheit versteht man allgemein das Recht, aus einer Koalition auszutreten oder einer Koalition fernzubleiben. Sie schützt jedoch nicht vor jeder Fernwirkung der kollektiven Interessenwahrung. Dass Nichtorganisierte von der Rechtsordnung anders behandelt werden als Organisierte, bedeutet keine Verletzung der Koalitionsfreiheit.

 

Normenkette

AÜG § 1 Abs. 1b S. 3; TzBfG § 14 Abs. 2 S. 2; AEUV Art. 288 Abs. 3; RL 2008/104/EG Art. 5 Abs. 5; GG Art. 9 Abs. 3; ZPO §§ 138, 520 Abs. 3; BGB § 242; AÜG § 9 Abs. 1, § 10 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Entscheidung vom 14.12.2020; Aktenzeichen 2 Ca 130/20)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 05.04.2023; Aktenzeichen 7 AZR 245/22)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts A-Stadt vom 14.12.2020, 2 Ca 130/20, wird auf seine Kosten teils als unzulässig verworfen, teils zurückgewiesen.

Die Revision wird insoweit zugelassen, als die Berufung nicht als unzulässig verworfen worden ist, im Übrigen wird die Revision nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer arbeitsvertraglichen Befristung und die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über das vereinbarte Befristungsende hinaus. Ferner begehrt die klagende Partei hilfsweise die Weiterbeschäftigung und weiter hilfsweise die Wiedereinstellung zu den bisherigen arbeitsvertraglichen Bedingungen.

Ursprünglich war der Kläger Arbeitnehmer der Firma A.V. - der Personaldienstleister GmbH & Co. KG (im Folgenden: A.V.). Dieses seit dem 15.09.2016 bestehende befristete Arbeitsverhältnis wurde durch mehrere Vertragsverlängerungen bis zum 31.08.2019 fortgesetzt. Im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses überließ die A.V. den Kläger durchgängig dem Betrieb der Beklagten in A-Stadt-S. im Wege der Arbeitnehmerüberlassung. Der Arbeitsvertrag des Klägers zu A.V. enthält in § 8 folgende Vereinbarung:

§ 8

Verweisung auf Tarifrecht / Betriebsvereinbarungen

Auf das Arbeitsverhältnis finden der Mantel- und Entgeltrahmentarifvertrag für Zeitarbeit zwischen einerseits der A.V. Zeitarbeit GmbH & Co. OHG und andererseits der IG Metall und der Entgelttarifvertrag für Zeitarbeit zwischen einerseits der A.V. Zeitarbeit GmbH & Co. OHG und andererseits der IG Metall in ihrer jeweils gültigen Fassung und alle weiteren zukünftigen Tarifverträge in vollem Umfang Anwendung.

Auf das Arbeitsverhältnis sind bestehende Betriebsvereinbarungen anwendbar.

A.V., die Beklagte und die IG Metall Bezirksleitung Niedersachsen/Sachsen-Anhalt schlossen unter dem 05.12.2013 einen Tarifvertrag über die Vergütung und Einsatzbedingungen von Zeitarbeitnehmern (nachfolgend TV VEZ), der unter anderem folgendes vorsieht:

4.3.1

Der Einsatz von Zeitarbeitnehmer der A.V. Zeitarbeit GmbH & Co. OHG ist auf maximal 36 aufeinanderfolgende Monate befristet. Der Zeitraum eines vorangegangenen Einsatzes als Zeitarbeitnehmer der A.V. Zeitarbeit GmbH & Co. KG, der A.V. GmbH bzw. der C-Stadt AG ist anzurechnen, wenn die Beendigung nicht länger als 6 Monate vor dem Beginn des neuen Einsatzes zurückliegt.

4.3.2

Eine Übernahme in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis bei der C. erfolgt regelmäßig nach 36 Monaten Einsatzdauer.

...

Die Beklagte begründete mit dem Kläger im unmittelbaren Anschluss an die Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit A.V. am 01.09.2019 ein Arbeitsverhältnis als Produktionshelfer. Der Arbeitsvertrag der Parteien enthielt eine Befristungsabrede und sah als Befristungsende den 31.05.2020 vor. Mit Schreiben vom 12.05.2020 teilte die Beklagte dem Kläger mit, ihm keine Anschlussbeschäftigung anbieten zu können und informierte ihn über die bevorstehende Beendigung des Arbeitsverhält...

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