Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung einer von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Protokollnotiz. Rückwirkende Abbedingung tariflicher Ansprüche durch die Tarifvertragsparteien. Regelungsbefugnis der Tarifvertragsparteien zu Differenzierungen im persönlichen Geltungsbereich eines Tarifvertrags. Kein Günstigkeitsvergleich zwischen Tarifverträgen. Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Allgemeiner Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als Grenze der Tarifautonomie

 

Leitsatz (amtlich)

1. Der Rechtscharakter einer von den Tarifvertragsparteien vereinbarten Protokollnotiz ist im Wege der Auslegung gemäß §§ 133, 157 BGB zu ermitteln.

2. Die Tarifvertragsparteien können selbst geschaffene Ansprüche unter Beachtung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur Rückwirkung von Gesetzen nachträglich abbedingen.

3. Einzelfallentscheidungen zu Ansprüchen eines Flugkapitäns aus einem Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung für Mitarbeiter des Cockpitpersonals in Übereinstimmung mit der Entscheidung des LAG Düsseldorf vom 16.08.2021 - 8 Sa 505/20 - (Revision BAG 5 AZR 27/22).

4. Die Tarifvertragsparteien können bei der Herausnahme von Normunterworfenen aus dem Geltungsbereich eines belastenden Tarifvertrages danach differenzieren, ob diese einen Aufhebungsvertrag im Rahmen einer Betriebsänderung oder davor vereinbart haben.

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Tarifvertragliche Regelungen tragen den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Abänderung durch Tarifvertrag in sich. Der jüngere Tarifvertrag löst dabei grundsätzlich den älteren ab. Ein Günstigkeitsvergleich gem. § 4 Abs. 3 TVG findet zwischen Tarifverträgen nicht statt.

2. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.

3. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als verfassungsrechtliche Wertentscheidung eine ungeschriebene Grenze der Tarifautonomie. Die Tarifvertragsparteien müssen deshalb im Rahmen ihrer durch Art. 9. Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie das Gebot beachten, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Differenzierungen sind nicht ausgeschlossen, müssen aber durch nachvollziehbare Sachgründe gerechtfertigt sein.

 

Normenkette

GG Art. 3; BGB §§ 126, 133, 157; TVG § 1 Abs. 2, § 4 Abs. 3; GG Art. 9 Abs. 3; BGB § 611a Abs. 2; MTV Cockpitpersonal Nr. 4 v. 01.11.2016 § 15 Abs. 14

 

Verfahrensgang

ArbG Hannover (Entscheidung vom 25.11.2021; Aktenzeichen 2 Ca 115/21)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts D-Stadt vom 25.11.2021 - 2 Ca 115/21 - wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Berufungsverfahrens hat der Kläger zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über tarifliche Ansprüche des Klägers auf Vergütung von nicht abgerufenen Standby-Diensten sowie eine lineare Gehaltserhöhung vom 01.01.2018 bis 28.02.2021 und über Vergütungsdifferenzansprüche wegen tarifvertraglicher Gehaltsreduzierungen vom 01.03. bis 30.06.2021.

Die Beklagte ist eine aus der früheren H.Fluggesellschaft mbH hervorgegangene, international agierende Fluggesellschaft mit Sitz in C-Stadt, welche zum Konzernverbund der T. AG gehört. Sie beschäftigte (Stand 16.04.2021) 2.151 Mitarbeiter, von denen 527 dem Cockpitpersonal angehörten.

Der am 01.01.1963 geborene Kläger war seit dem 01.02.1992 zuletzt als Kapitän bei der Beklagten beschäftigt. Seine durchschnittliche monatliche Bruttovergütung betrug in Vollzeit 16.905,47 €.

Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien finden die zwischen der Vereinigung Cockpit e.V. (im Folgenden: VC) und der Beklagten abgeschlossenen Tarifverträge Anwendung. Der Kläger ist Mitglied des VC.

In § 15 Abs.14 des Manteltarifvertrages Nr. 4 für das Cockpitpersonal der C. vom 01.11.2016 (im Folgenden: MTV Nr. 4, vgl. 35 d. A.) ist geregelt:

"Nicht abgerufene Standby Dienste werden wertmäßig mit jeweils 2 Mehrflugstunden (in erster Stufe des jeweils gültigen VTV; jeweils für First Officer bzw. Captain) vergütet".

Am 23.11.2017 schloss die Beklagte mit dem VC eine Tarifvereinbarung (im Folgenden: TV 2017, vgl. Bl. 26 - 31 d. A.), die u.a. nachstehende Regelungen beinhaltet:

"I. Betrieb von 39 Flugzeugen

1.

Ab dem Sommerflugplan 2018 werden mindestens 35 Flugzeuge vom Typ Boeing 737 von T. betrieben, wobei bis maximal 7 der 35 Flugzeuge im Wet-Lease an Dritte vermarktet werden. Ab Sommerflugplan 2019 werden, für die verbleibende Laufzeit dieser Vereinbarung (bis zum 31.12.2020), ins...

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