Entscheidungsstichwort (Thema)
Lehre vom Betriebsrisiko als generelle Gefahrtragungsregel im Dienst- und Arbeitsrecht. Betriebsrisiko und vorteilhafte Vertragsgestaltung durch Einsatz von geringfügig Beschäftigten. Annahmeverzug des Arbeitgebers bei pandemiebedingter behördlicher Schließung des Betriebs
Leitsatz (amtlich)
Wird eine Verkaufsstelle des Fachhandels durch behördliche Anordnung infolge der COVID 19-Pandemie für den Kundenverkehr geschlossen, so erhält eine geringfügige beschäftigte Arbeitnehmerin ihren Vergütungsanspruch gem. § 615 Satz 1 und 3 BGB.
Leitsatz (redaktionell)
1. § 615 BGB verkörpert die Lehre vom Betriebsrisiko und ist eine spezielle Gefahrtragungsregel. Sie gilt unabhängig davon, ob der Arbeitgeber nicht willens oder nicht fähig ist, die Leistung anzunehmen und betrifft alle Fälle, in denen der Arbeitgeber aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen notwendige Arbeitsmittel nicht zur Verfügung stellen kann.
2. Die Anordnung von Kurzarbeit schließt einen Annahmeverzug aus. Dies gilt aber nicht bei geringfügig Beschäftigten infolge fehlender Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung. Das Betriebsrisiko des Arbeitgebers sichert das Gegengewicht zu seinem durch Einsatz von geringfügig Beschäftigten erzielten betriebswirtschaftlichen Vorteil.
Normenkette
BGB § 615 Sätze 1, 3, § 326 Abs. 2 S. 1 Alt. 1
Verfahrensgang
ArbG Verden (Aller) (Entscheidung vom 29.09.2020; Aktenzeichen 1 Ca 391/20) |
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Verden - 1 Ca 391/20 - vom 29.09.2020 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten der Berufung.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Entgeltzahlung für den Monat April 2020, während dessen die Filiale, in der die Klägerin tätig ist, aufgrund behördlicher Anordnung wegen der Corona-Pandemie geschlossen war.
Wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Das Arbeitsgericht Verden hat mit Urteil vom 29.09.2020 der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Beklagte schulde der Klägerin die Zahlung des im Rahmen des Minijobs vereinbarten Monatslohns von 00,00 € netto gemäß §§ 611, 615 Satz 3 BGB. Durch die behördlich angeordnete Schließung der Zweigfiliale habe sich das Betriebsrisiko zu Lasten der Beklagten realisiert. Wann den Arbeitgeber das Betriebsrisiko treffe, regele § 615 Satz 3 BGB nicht. Das Bundesarbeitsgericht vertrete in ständiger Rechtsprechung die Auffassung, dass grundsätzlich und in erster Linie den Arbeitgeber das volle Betriebsrisiko treffe, da er den Betrieb und die betriebliche Gestaltung organisiere, die Verantwortung trage und die Erträge beziehe. Ob die Betriebsstörung auf ein Versagen sachlicher oder persönlicher Mittel des Betriebes oder auf sonstigen Einwirkungen auf das Unternehmen, etwa Naturkatastrophen, extreme Witterungsverhältnisse usw. beruhe, sei nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unerheblich.
Anders könne es liegen, wenn - etwa aufgrund von Naturereignissen - auch der Arbeitnehmer am Erscheinen gehindert sei, da sich dann das von ihm zu tragende Wegerisiko realisiere. Das sei vorstehend jedoch nicht der Fall.
Die vom Bundesarbeitsgericht aufgestellten Grundsätze seien auch auf den Fall der Corona-Pandemie und die daraus resultierende behördliche Anordnung der temporären Schließung von Ladengeschäften anwendbar. Dabei komme es auch nicht darauf an, ob das Risiko der Betriebsschließung in der besonderen Eigenart des jeweiligen Betriebes angelegt sei oder ob etwa die generelle Schließung sämtlicher Betriebe angeordnet wird.
Zwar habe das Bundesarbeitsgericht in früheren Jahrzehnten teilweise die Auffassung vertreten, dass der Arbeitnehmer das Betriebsrisiko ausnahmsweise mittragen müsse, falls die Entgeltfortzahlung die Existenz des Betriebes gefährde. Die Beklagte habe aber nicht behauptet, dass mit der Lohnzahlung an die Klägerin in Höhe von 00,00 € eine Existenzgefährdung der Beklagten verbunden sei. Die Beklagte habe offenbar für die nicht geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer Kurzarbeit wirksam angeordnet.
Gegen dieses ihr am 02.10.2020 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 08.10.2020 Berufung eingelegt und diese fristgemäß am 24.11.2020 begründet. Die Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts sei unzutreffend. Die Argumentation des Arbeitsgerichts verkenne, dass es im vorliegenden Fall nicht um ein Problem im Betrieb der Beklagten gehe, sondern um eine behördliche Verfügung, die zu der Zeit alle Ladengeschäfte in der Bundesrepublik Deutschland betraf. Die Ursache für die Betriebsschließung habe insoweit nicht im Betrieb selbst gelegen, z. B. in dessen örtlicher Lage und/oder betrieblicher Ausstattung. Die Beklagte habe in keiner Weise etwas für diese Betriebsschließung können. Die durch die Corona-Pandemie bedingte und angeordnete Betriebsschlie...