Entscheidungsstichwort (Thema)
Abmahnung. außerordentliche Kündigung. Domkantor. Ersatzmutterschaft. in-vitro-Fertilisation. Kündigungsverzicht. Landeskirche. Leihmutter. Loyalitätspflicht. Meinungsfreiheit. Tendenz. Treuwidrig. venire contra factum proprium. Verzicht. Kündigung eines bei einer evangelischen Landeskirche beschäftigten Domkantors wegen Überlegungen zur Inanspruchnahme einer Leihmutterschaft in einem südamerikanischen Land. treuwidrige Kündigung nach vorausgegangenem Kündigungsverzicht
Leitsatz (amtlich)
1. Der Kündigungsberechtigte kann sowohl bei einer außerordentlichen als auch bei einer ordentlichen Kündigung auf ein auf bestimmte Gründe gestütztes und konkret bestehendes Kündigungsrecht verzichten. Der Verzicht kann ausdrücklich oder konkludent durch eine empfangsbedürftige Willenserklärung des Kündigungsberechtigten erfolgen.
2. Das Kündigungsrecht erlischt, wenn der Kündigungsberechtigte wegen des ihm bekannten Kündigungssachverhaltes eine Abmahnung ausspricht und sich die für die Kündigung maßgebenden Umstände nicht später geändert haben.
3. Bei einem Verzicht auf die Kündigung ändert sich die Rechtslage hinsichtlich eines vorhandenen Kündigungsgrundes nicht. Der Verzichtende legt sich aber gegenüber dem Vertragspartner fest, aus einer ihm günstigen Tatsachenlage keine Konsequenzen zu ziehen. Eine Kündigung trotz Verzichts ist ein Fall unzulässiger Rechtsausübung iSv. § 242 BGB in der Form des Verbotes widersprüchlichen Verhaltens.
4. Zur Rechtfertigung einer späteren Kündigung kann der Arbeitgeber auf solche Gründe nur dann unterstützend zurückgreifen, wenn weitere kündigungsrechtlich erhebliche Umstände eintreten oder nachträglich bekannt werden.
Normenkette
BGB §§ 242, 626
Verfahrensgang
ArbG Braunschweig (Entscheidung vom 15.09.2022; Aktenzeichen 7 Ca 87/22) |
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Braunschweig vom 15. September 2022 - 7 Ca 87/22 - wird kostenpflichtig zurückgewiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer fristlos, hilfsweise mit sozialer Auslauffrist ausgesprochenen außerordentlichen Kündigung und um Weiterbeschäftigung.
Die Parteien verbindet seit dem 15. September 1999 ein Arbeitsverhältnis. Der Dienstvertrag, wegen dessen genauen Inhalts auf Bl. 5 f. d.A. verwiesen wird, nimmt das Gemeinsame Mitarbeitergesetz und die Dienstvertragsordnung der Beklagten in der jeweils geltenden Fassung in Bezug. Der Kläger wurde als "Domkantor (A-Kirchenmusikerstelle)" eingestellt. Gemäß § 2 Abs. 2 des Dienstvertrages ist er an das Bekenntnis und Recht der Beklagten gebunden sowie "in seinem dienstlichen Handeln und in seiner Lebensführung dem Auftrag des Herrn verpflichtet, das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen". Zu den Tätigkeiten des Klägers gehörten die Leitung der kirchenmusikalischen Arbeit am Dom mit der Gesamtleitung der Domsingschule, die Leitung des Kantorats mit zwei weiteren hauptamtlichen Kirchenmusikern, die Gruppenleitung des Domchors, der Jugendkantorei, der Kurrenden und des Domsinfonieorchesters einschließlich der Durchführung von Proben, Konzerten und Freizeiten. Ferner war er zuständig für die Gremienarbeit und die Kooperation mit kirchlichen und kulturellen Einrichtungen, das Orgelspiel bei Gottesdiensten und Andachten und die Ausbildung von Orgelschülern.
Ende des Jahres 2020 teilte der Kläger mehreren Personen innerhalb der Gemeinschaft des Doms mit, dass er zusammen mit seinem Ehemann plane, sich seinen persönlichen Kinderwunsch im Wege einer Leihmutterschaft zu erfüllen. Im Mai 2021 ließ er im Anschluss an eine Abendandacht Herrn Pater M. wissen, dass er und sein Ehemann die Umsetzung ihres Kinderwunsches planten und in Kolumbien bereits Leihmütter in Aussicht hätten, und dass sie planten, im Herbst 2021 nach Kolumbien zu fliegen, um in einer bereits ausgesuchten Klinik diese Pläne anzugehen. Eine solche Reise erfolgte im Januar 2022, wobei der Kläger und sein Ehemann eine kolumbianische Klinik für Reproduktionsmedizin aufsuchten und Kontakt zu zwei Frauen aufnahmen, die sich eine sogenannte Ersatzmutterschaft vorstellen konnten. Ende Januar 2022 berichtete der Kläger dem Landesbischof der Beklagten von dieser Reise. Am 2. Februar 2022 erklärte die Leiterin der Personalabteilung, Frau OLKR B., dem Kläger in einem Personalgespräch, sein Kinderwunsch werde durch das Domkuratorium zwar missbilligt; jedoch würden keine dienstrechtlichen Konsequenzen gezogen. Mit Schreiben vom 17. Februar 2022 (Bl. 83 bis 87 d.A.) erklärte der Landesbischof der Beklagten dem Kläger rechtliche und ethische Bedenken gegen eine Ersatzmutterschaft. Das Schreiben enthält den Satz: "Das Kollegium hat zwar aus verschiedenen Gründen von einer außerordentlichen Kündigung abgesehen, hält jedoch die Glaubwürdigkeit Ihres Dienstes am Dom trotzdem für schwer beschädigt". Dem stellte der Kläger mit Schreiben vom 20. Februar 2022 (Bl. 88 f. d.A.) seinen Standpunkt gegenüber. Mit E-Mail vom 24. Februar 2022 (Bl...