Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung der Sachgerechtigkeit vor Abschluss einer Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs. 2 BetrVG. Keine Abweichung von der in § 9 BetrVG vorgeschriebenen Zahl von Betriebsratsmitgliedern. Vertriebsbezirke als geeignete Einheiten für Betriebsratsgremien. Keine nachträgliche Heilung einer wegen Verstoß gegen § 3 Abs. 2 BetrVG unwirksamen Gesamtbetriebsvereinbarung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Betriebsparteien haben bei Abschluss einer Betriebsvereinbarung nach § 3 Abs. 2 BetrVG zur Verbesserung der Repräsentation der Belegschaft zu prüfen, ob die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats nach § 3 Abs. Nr. 1a) BetrVG oder die Zusammenfassung von Einheiten nach § 1 Abs. 1 Nr. 1b) BetrVG sachgerechter ist (bisher: Betriebsräte in über 200 der über 500 deutschlandweit verteilten Filialen).
2. Die Betriebsparteien sind bei einer Entscheidung nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG nicht befugt, die Zahl der Betriebsratsmitglieder nach § 9 BetrVG zu erhöhen. Halten sie eine Erhöhung zur Durchführung der Aufgaben für notwendig, spricht dies gegen die Sachgerechtigkeit der Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats.
3. Regeln die Betriebsparteien, dass der unternehmenseinheitliche Betriebsrat die einzelnen Vertriebsbezirke angemessen repräsentieren soll, und legen sie Regeln hierfür fest, spricht dies dafür, dass diese Vertriebsbezirke geeignetere Einheiten für Betriebsratsgremien darstellen.
4. Ändert der Arbeitgeber seine Kompetenzstruktur nach dem Wahlausschreiben und nimmt den Vertriebsleitern Kompetenzen weg, kann dies eine i. S. d. § 3 Abs. 2 BetrVG unwirksame Gesamtbetriebsvereinbarung, nach der die Wahl durchgeführt wird, nicht nachträglich heilen. Auch eine in diesem Zeitpunkt neu abgeschlossene Gesamtbetriebsvereinbarung ist für die Gültigkeit der laufenden Wahl nicht relevant.
Leitsatz (redaktionell)
Eine Abweichung von der in § 9 BetrVG gesetzlich normierten Staffel ist nicht zulässig, auch nicht durch eine Vergrößerung der Zahl der Betriebsratsmitglieder. Anders als in der Freistellungsstaffel des § 38 BetrVG ist in § 9 BetrVG keine Möglichkeit zur abweichenden Regelung - auch nicht durch Tarifvertrag oder Betriebsvereinbarung - vorgesehen.
Normenkette
BetrVG § 3 Abs. 2, 1 Nr. 1, §§ 9, 19, 4, 18 Abs. 2; WO § 24 Abs. 3
Verfahrensgang
ArbG Weiden (Entscheidung vom 05.05.2022; Aktenzeichen 3 BV 4/22) |
Tenor
I. Die Beschwerden der Beteiligten zu 40.) und 41.) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Weiden vom 05.05.2022, Az. 3 BV 4/22, werden zurückgewiesen.
II. Die Rechtsbeschwerde zum Bundesarbeitsgericht wird zugelassen.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten über die Anfechtung einer Betriebsratswahl.
Die Beteiligten zu 1.) bis 39.) waren im Zeitpunkt der Antragstellung Arbeitnehmer im von der Beteiligten zu 41.) geführten Unternehmen. Der Beteiligte zu 40.) ist der am 01.03.2022 gewählte unternehmenseinheitliche Betriebsrat. Im Zeitpunkt der Anhörung vor dem Landesarbeitsgericht wird das Verfahren noch von den Beteiligten zu 1.) bis 3.), 7.) bis 9.), 11.) bis 13.), 17.), 20.), 22.), 23.), 25.) bis 28.), 30.) bis 32.), 34.) und 36.) bis 39.) betrieben.
Die Beteiligte zu 41.) betreibt in mindestens 531 - laut Wahlausschreiben vom 07.01.2022 in etwa 550 - über ganz Deutschland verteilten Filialen Kfz-Werkstätten mit integrierten Autofahrer-Fachmärkten. Ihre Zentrale sitzt in W. Sie beschäftigt etwa 8.160 Mitarbeiter. Sie ist an keinen Tarifvertrag gebunden. In etwa 220 Filialen waren - soweit sie räumlich weit von der Zentrale in W. entfernt lagen - zuletzt eigene Betriebsräte gebildet, bestehend abgesehen von der Zentrale in W. überwiegend aus einer Person, in den 34 größeren Filialen aus drei Personen. Die Zahl der Filialen mit Betriebsräten ist seit einigen Jahren rückläufig.
Im Jahr 2019 kam es bei der Beteiligten zu 41.) zu einer organisatorischen Umstrukturierung. Die bisherige Filialorganisation mit fünf Vertriebsorganisationen, geleitet durch je einen Regionalleiter, der über Prokura verfügte, und 45 Vertriebsgebieten mit jeweils einem Gebietsleiter wurde ersetzt durch eine Struktur mit 20 Vertriebsbezirken mit je einem Vertriebsleiter, der keine Handlungsvollmacht oder Prokura besitzt und nicht zeichnungsberechtigt ist. Den Vertriebsleitern, die der Zentrale der Beteiligten zu 41.) in W. unterstellt sind, sind die jeweils in deren Bezirken gelegenen Filialen zugeordnet. Die Zahl der Filialen mit Betriebsrat in den jeweiligen Vertriebsbezirken ist unterschiedlich. So war etwa im Vertriebsbezirk 8 in nur einer von 27 Filialen ein Betriebsrat gewählt, im Vertriebsbezirk 6 in drei von 28 Filialen, im Vertriebsbezirk 4 in vier von 29 Filialen, im Vertriebsbezirk 1 in fünf von 27 Filialen und in den Vertriebsbezirken 5, 9 und 14 in sieben von 29, 27 bzw. 22 Filialen. Der Anteil der von Betriebsräten vertretenen Mitarbeitern betrug in den 20 Vertriebsbezirken demzufolge zwischen 4% und 80% (Anlage AS 4 zum Schriftsatz der Vertreter des Beteiligten zu 40.) vom 27.04.2022, Bl. 234 f. d.A....