Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweilige Verfügung auf Weiterbeschäftigung nach § 102 Abs. 5 BetrVG. Anforderungen an den Widerspruch. Einstweiliger Verfügung
Leitsatz (amtlich)
1. Der Arbeitgeber kann auch dann im Verfahren nach § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung eines gekündigten Arbeitnehmers entbunden werden, wenn eine Weiterbeschäftigungspflicht mangels Vorliegens eines ordnungsgemäßen Betriebsratswiderspruches letztlich nicht bestand. Dies folgt aus dem Zweck des besonderen Eilverfahrens des § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG und dem unterschiedlichen Prüfungsmaßstab (Ordnungsmäßigkeit des Betriebsratswiderspruches einerseits, Offensichtlichkeitsprüfung der Entbindungsvoraussetzung des § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 BetrVG andererseits).
2. Ein Widerspruch des Betriebsrats ist auch dann „offensichtlich unbegründet” im Sinne des § 102 Abs. 5 S. 2 Nr. 3 BetrVG, wenn er sich schon seinem Wortlaut nach eindeutig nicht auf einen der in § 102 Abs. 3 BetrVG abschließend aufgeführten Widerspruchsgründe bezieht. Dies ist der Fall, wenn der Betriebsrat dem Antrag auf Zustimmung zur krankheitsbedingten Kündigung mit der Begründung widersprochen hat, der Arbeitgeber habe das betriebliche Eingliederungsmanagement nicht durchgeführt.
3. Vortrag und Glaubhaftmachung von Eilbedürftigkeit ist im Verfahren nach § 102 Abs. 5 S. 2 BetrVG nicht erforderlich.
4. Im Hinblick auf die durch Verkündung eintretende Gestaltungswirkung der Entbindung ist eine „Vollziehung” der einstweiligen Verfügung durch Zustellung im Parteibetrieb nach § 929 Abs. 2 ZPO nicht erforderlich.
Normenkette
BetrVG § 102 Abs. 5 S. 2; ZPO § 929 Abs. 2
Verfahrensgang
ArbG Nürnberg (Urteil vom 06.06.2006; Aktenzeichen 14 Ga 33/06) |
Tenor
I. Die Berufung des Verfügungsbeklagten gegen das Endurteil des Arbeitsgerichts Nürnberg vom 06.06.2006 – Az. 14 Ga 33/06 – wird zurückgewiesen.
II. Der Verfügungsbeklagte hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten im Wege einstweiliger Verfügung darüber, ob der Arbeitgeber von der nach § 102 Abs. 5 BetrVG bestehenden Pflicht zur Weiterbeschäftigung eines gekündigten Arbeitnehmers zu entbinden ist.
Der Antragsgegner war seit 24.01.2005 bei der Antragstellerin als Mitarbeiter im Außendienst zu einem Bruttomonatsentgelt von durchschnittlich 4.400,- EUR beschäftigt. Die Antragstellerin hörte den im Betrieb gebildeten Betriebsrat mit Schreiben vom 13.04.2006 zur Absicht an, den Antragsgegner personenbedingt wegen häufiger Kurzerkrankungen zu kündigen. Der Betriebsrat widersprach der Kündigung mit Schreiben vom 18.04.2006. Das Widerspruchsschreiben vom 18.04.2006 (Anlage AS 4 zur Antragsschrift, Bl. 11 d.A.) hat folgenden Wortlaut:
„der Betriebsrat hat sich in seiner Sitzung vom 18.04.2006 eingehend mit der von Ihnen beabsichtigten, personenbedingten, ordentlichen Kündigung des Mitarbeiters B. beschäftigt und folgenden Beschluss gefasst:
Der beabsichtigten, personenbedingten, ordentlichen Kündigung des Mitarbeiters, B., mit Wirkung zum 31.05.2006, wird gemäß § 102 Abs. 5 BetrVG widersprochen.
Gründe:
Der Betriebsrat kann nicht erkennen, dass im vorliegenden Fall vor dem Ausspruch der krankheitsbedingten Kündigung der Versuch eines betrieblichen Eingliederungsmanagements unternommen wurde. Dies ist aber laut § 84 Abs. 2 SGB IX zwingend erforderlich.”
Die Antragstellerin kündigte das Beschäftigungsverhältnis mit Schreiben vom 19.04.2006 mit Wirkung zum 31.05.2006 (Anlage AS 2 zur Antragsschrift, Bl. 7 d.A.). Der Antragsgegner ließ der Kündigung durch seine Prozessvertreter mit Schreiben vom 02.05.2006 widersprechen mit der Begründung, er habe am 07.04.2006 einen Antrag auf Anerkennung als Schwerbehinderter, ferner einen Antrag auf Gleichstellung gestellt. Die Kündigung sei schon deswegen unwirksam. Im Hinblick auf den Widerspruch des Betriebsrats mache er den Weiterbeschäftigungsanspruch nach § 102 Abs. 5 BetrVG geltend (Anlage AS 5, ebenda, Bl. 12 d.A.). Der Antragsgegner erhob gegen die Kündigung vom 19.04.2006 Kündigungsschutzklage, die beim Arbeitsgericht Nürnberg unter dem Aktenzeichen 14 Ca 3353/06 anhängig ist.
Die Antragstellerin ist der Auffassung, der Widerspruch des Betriebsrats sei offensichtlich unbegründet. Der Betriebsrat könne nach § 102 Abs. 3 BetrVG nur aus den dort abschließend aufgeführten Gründen widersprechen. Der Hinweis auf ein Unterlassen eines Eingliederungsmanagements lasse sich unter keinen der gesetzlichen Widerspruchsgründe einordnen. Unabhängig davon sei der Antragsgegner nicht als schwerbehinderter oder gleichgestellter Arbeitnehmer anerkannt, so dass er nicht unter den Schutzbereich des § 84 SGB IX falle.
Die Antragstellerin hat im Verfahren vor dem Arbeitsgericht daher folgenden Antrag gestellt:
Die Antragstellerin wird von der Verpflichtung zur Weiterbeschäftigung des Antragsgegners ab 01.06.2006 entbunden.
Der Antragsgegner hat beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Er hat eingewandt, der Antrag sei nicht begründet, weil der Widerspruch nicht im Sin...