Leitsatz (amtlich)
1. Für den Nachweis der alkoholbedingten Beeinträchtigung ist auch im arbeitsgerichtlichen Bestandsstreit der durch ein Atemalkoholgerät festgestellte Blutalkoholgehalt nicht ausreichend. Es müssen weitere Anhaltspunkte, vor allem Ausfallerscheinungen festgestellt werden.
2. Lassen sich solche Anhaltspunkte hinsichtlich des einer vorgängigen Abmahnung zugrundeliegenden Verhaltens nicht nachweisen, ist die Kündigung wegen Fehlens einer berechtigten vorgängigen Abmahnung sozial ungerechtfertigt, selbst wenn hinsichtlich des unmittelbar zur Kündigung führenden Verhaltens der Nachweis gelingt.
3. Der Beschäftigungsanspruch nach der Rechtsprechung des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts kann von dem in erster Instanz erfolgreichen Arbeitnehmer auch erstmals in zweiter Instanz im Wege der Anschlußberufung geltend gemacht werden.
Normenkette
KSchG § 1; BGB § 611
Verfahrensgang
Tenor
I. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bamberg, Kammer Coburg, vom 13.05.1993 – 1 Ca 1335/92 C – wird zurückgewiesen.
II. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger an seinem bisherigen Arbeitsplatz als Bestücker zu unveränderten Bedingungen weiterzubeschäftigen.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, daß das zwischen ihnen seit Februar 1985 bestehende Arbeitsverhältnis durch die ordentliche Kündigung der Beklagten vom 11.11.1992 zum 31.12.1992 wegen wiederholter Alkoholisierung beendet worden ist.
1988 verwarnte Herr S. in einem persönlichen Gespräch den Kläger wegen angeblicher Beschimpfung einer Kollegin in alkoholisiertem Zustand.
Unter dem 26.11.1991 erteilte die Beklagte dem Kläger folgende Abmahnung:
„Sehr geehrter Herr S.
Am 15. November 1991 sind Sie stark alkoholisiert zur Arbeit gekommen. Ein mit Ihrem Einverständnis durchgeführter Alkoholtest ergab über 1,4 Promille. Wegen alkoholbedingter Arbeitsunfähigkeit wurden Sie daraufhin wieder nach Hause geschickt. Durch Ihren übermäßigen Alkoholgenuß haben Sie grob gegen unsere Arbeitsordnung verstoßen.
Ein derartiges Verhalten können wir keinesfalls akzeptieren. Aus diesem Grund erhalten Sie hiermit eine strenge Abmahnung. Wir Miesen Sie nachdrücklich darauf hin, daß wir das Beschäftigungsverhältnis mit Ihnen im Wiederholungsfall kündigen werden.
Gleichzeitig fordern wir Sie auf, den mit Ihnen noch zu vereinbarenden Termin zu einer Untersuchung bei unserem Werksarzt wahrzunehmen. Sollte diese Untersuchung ergeben, daß bei Ihnen Alkoholmißbrauch vorliegt, werden wir ein erneutes Personalgespräch mit Ihnen führen.”
Am 17.07.1992 lag nach der Auffassung der Beklagten eine erneute alkoholbedingte Beeinträchtigung beim Kläger vor. Die Beklagte nahm dies zum Anlaß unter dem 04.08. bei der Hauptfürsorgestelle die Zustimmung zur Kündigung des schwerbehinderten Klägers zu beantragen. Dem Betriebsrat teilte sie unter dem 03.08.1992 gemäß § 102 BetrVG unter Angabe der persönlichen Verhältnisse des Klägers die Absicht der Kündigung mit. Als Kündigungsgrund führte sie an:
„Herr S. hat erneut unter Alkoholeinfluß am 17.7.92 gearbeitet. Der Alkoholtest beim Werkarzt ergab 1,6 Promille. Die weitere Untersuchung beim Werksarzt hat ergeben, daß keine Genußmittelabhängigkeit vorliegt. Herr S. wurde bereits einschlägig abgemahnt. Siehe die Abmahnung vom 26.11.1991. Die Kündigung erfolgt erst nach der Zustimmung der Hauptfürsorgestelle Bayreuth.”
Die Hauptfürsorgestelle hat unter dem 27.10.1992 ihre Zustimmung zur Kündigung des Klägers erteilt. Der Betriebsrat hat unter dem 10.11.1992 der Beklagten mitgeteilt, er sehe keine Möglichkeit der Kündigung zu widersprechen. Unter dem 11.11.1992 hat die Beklagte das bestehende Arbeitsverhältnis ordentlich gekündigt.
Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 13. Mai 1993 festgestellt, daß das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht zum 31.12.1992 beendet worden ist, sondern fortbesteht. Gegen dieses der Beklagten am 05.10.1993 zugestellte Urteil wendet sich die Beklagte mit der Berufung.
Die Beklagte trägt vor,
der Kläger übe eine der gefährlichsten Tätigkeiten im gesamten Unternehmen aus. An die Sicherheit der im Bereich der Galvanik beschäftigten Arbeitnehmer müßten höchste Anforderungen gestellt werden. Nicht nur das Merkblatt für gefährliche Arbeitsstoffe, sondern auch die Arbeitsordnung sehe vor, daß Alkohol nicht während der Arbeit genossen werden dürfe. Hiergegen habe der Kläger in erheblichem Maße verstoßen, obwohl er bereits in der Vergangenheit wegen gleichgelagerter Vorfälle habe ermahnt werden müssen. So sei er 1988 ausdrücklich mündlich ermahnt worden. Für den Wiederholungsfall sei eine schriftliche Verwarnung angedroht worden. In der Folgezeit hätten sich die unmittelbaren Kollegen des Klägers gestört und belästigt gefühlt, weil der Kläger immer wieder im alkoholisierten Zustand während der Arbeitszeit angetroffen worden se...