Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksame Betriebsratswahl bei Nichtberücksichtigung von Leiharbeitnehmern und unzureichender Übersetzung der Wahlausschreibung zur Unterrichtung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach § 19 Abs. 1 BetrVG kann eine Betriebsratswahl angefochten werden, wenn gegen wesentliche Vorschriften über das Wahlrecht, die Wählbarkeit oder das Wahlverfahren verstoßen wurde und eine Berichtigung nicht erfolgt ist, es sei denn, dass durch den Verstoß das Wahlergebnis nicht geändert oder beeinflusst werden konnte.
2. § 7 Satz 2 BetrVG ist eine wesentliche Vorschrift über die Wahlberechtigung, nach der Leiharbeitnehmer aktiv wahlberechtigt sind, wenn sie länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt werden; maßgeblicher Zeitpunkt für die Feststellung der Voraussetzung des aktiven Wahlrechts ist der Wahltag.
3. Sind Leiharbeitnehmer am Wahltag noch nicht länger als drei Monate im Betrieb eingesetzt, ist eine Prognoseentscheidung bezüglich ihrer weiteren Einsatzzeit erforderlich; die Prognoseentscheidung zur Beschäftigungsdauer hat sich in erster Linie am Vertrag zwischen Betriebsinhaberin und Verleiherin zu orientieren.
4. Sind Leiharbeitnehmer nicht (nachträglich) nach § 4 Abs. 3 Satz 1 WahlO BetrVG in die Wählerliste aufgenommen worden, sind sie an der Ausübung ihres aktiven Wahlrechts (§ 7 Satz 2 BetrVG) gehindert; der rechtzeitige Einspruch beim Wahlvorstand gegen die Richtigkeit der Wählerliste ist keine Voraussetzung für die Anfechtungsberechtigung, da § 19 Abs. 2 BetrVG die Anfechtungsbefugnis uneingeschränkt gewährt.
5. Bei der Regelung in § 2 Abs. 5 WahlO BetrVG handelt es sich trotz der Ausgestaltung als Soll-Vorschrift um eine wesentliche Vorschrift über das Wahlverfahren im Sinne des § 19 Abs. 1 BetrVG, deren Verletzung zur Anfechtung der Betriebsratswahl berechtigt; gemäß § 2 Abs. 5 WahlO BetrVG soll der Wahlvorstand dafür sorgen, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, vor Einleitung der Betriebsratswahl über Wahlverfahren, Aufstellung der Wähler- und Vorschlagslisten, Wahlvorgang und Stimmabgabe in geeigneter Weise unterrichtet werden.
6. Der Wahlvorstand verstößt gegen § 2 Abs. 5 WahlO BetrVG, wenn er das Wahlausschreiben lediglich in die vietnamesische und die russische Sprache übersetzen lässt und eine den Anforderungen des § 2 Abs. 5 WahlO BetrVG genügende Unterrichtung der übrigen im Betrieb tätigen ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die (weitere) insgesamt sieben verschiedene Muttersprachen (Türkisch, Italienisch, Spanisch, Portugiesisch, Polnisch, Tschechisch und Thailändisch) sprechen, nicht erfolgt, obwohl er selbst davon ausgeht oder ausgehen muss, dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der deutschen Sprache nicht im Sinne des § 2 Abs. 5 WahlO BetrVG mächtig sind.
7. Bei der Frage, ob die im Betrieb beschäftigten ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der deutschen Sprache im Sinne des § 2 Abs. 5 WahlO BetrVG mächtig sind, ist im Hinblick auf den Zweck der Vorschrift, ausländischen Beschäftigten die wesentlichen Grundsätze über die durchzuführende Wahl zu vermitteln, um ihnen in gleicher Weise wie deutschen Beschäftigten die Wahrnehmung ihres aktiven und passiven Wahlrechts zu ermöglichen, nicht lediglich darauf abzustellen, ob sie sich bei der täglichen Arbeit hinreichend verständigen können; entscheidend ist vielmehr, ob ihre Deutschkenntnisse ausreichen, um die zum Teil komplizierten Wahlvorschriften und den Inhalt eines Wahlausschreibens verstehen zu können.
8. Im Zweifelsfall muss der Wahlvorstand jedenfalls dann von unzureichenden deutschen Sprachkenntnissen ausgehen, wenn im Betrieb eine größere Anzahl ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im gewerblichen Bereich mit einfachen Arbeiten beschäftigt ist; diese Beschäftigten mögen zwar über die für die tägliche Arbeit erforderlichen Deutschkenntnisse verfügen, was aber nicht bedeutet, dass diese Kenntnisse auch genügen, um sich die zu einer umfassenden Wahrnehmung der Rechte im Zusammenhang mit einer Betriebsratswahl nötigen Informationen selbst zu verschaffen, da zur Erledigung einfacher Tätigkeiten im gewerblichen Bereich in der Regel nur geringe Deutschkenntnisse erforderlich sind.
Normenkette
BetrVG §§ 19, 7 Abs. 1 S. 2; WO § 2 Abs. 5; BetrVG § 7 S. 2, § 19 Abs. 1-2; WahlO BetrVG § 2 Abs. 5; WahlO BetrVG § 4 Abs. 3 S. 1
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 11.03.2014; Aktenzeichen 8 BV 32/13) |
Tenor
I.
Die Beschwerden der Antragsteller, des Betriebsrats und der Arbeitgeberin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts Koblenz vom 11.3.2014 - 8 BV 32/13 - werden zurückgewiesen.
II.
Die Beschwerde des Beteiligten zu 12. wird als unzulässig verworfen.
III.
Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
Gründe
I. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer im Betrieb der Beteiligten zu 10. (im Folgenden: Arbeitgeberin) durchgeführten Wahl, aus der der zu 11. beteiligte Betriebs...