Entscheidungsstichwort (Thema)

Tarifabsenkende Vergütung eines Großhandelskaufmanns aufgrund eines vorrangigen firmenbezogenen Verbandstarifvertrages der Chemischen Industrie zur Sicherung der Beschäftigung und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Grundsätzlich sind die Tarifvertragsparteien frei darin, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten Tarifverträge abzuschließen und von ihnen geschlossene Tarifverträge abzuändern; aus dem Ablösungsprinzip, nach dem die jüngere Tarifregelung der älteren vorgeht, ergibt sich, dass eine Tarifnorm stets unter dem Vorbehalt steht, durch eine nachfolgende tarifliche Regelung verschlechtert oder ganz gestrichen zu werden.

2. Die Tarifvertragsparteien bedürfen keiner tariflichen Öffnungsklausel, um einen firmenbezogenen Verbandstarifvertrag zu vereinbaren, der einem anderen Verbandstarifvertrag vorgehen soll; die Frage, ob der einschlägige Manteltarifvertrag eine Öffnungsklausel enthält, ist unerheblich.

3. An ihre Protokollnotizen sind die Tarifvertragsparteien nicht gebunden; eine Grenze bilden lediglich der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG, das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 2 GG sowie zwingendes einfach-gesetzliches Recht, wobei es insbesondere zu dem durch das Grundgesetz geschützten Kernbereich der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) gehört, dass die Tarifvertragsparteien bis zur Grenze der Willkür in freier Selbstbestimmung festlegen, ob und für welche Berufsgruppen und Tätigkeiten sie überhaupt tarifliche Regelungen treffen oder nicht treffen wollen.

4. Besteht gemäß einer Fußnote zur Vorbemerkung eines Manteltarifvertrages zwischen den Tarifvertragsparteien Einvernehmen darüber, dass zur Sicherung der Beschäftigung oder Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit im Einzelfall abweichende tarifliche Regelungen auch in firmenbezogenen Tarifverträgen (zwischen dem Bundesarbeitgeberverband Chemie BAVC und der IG BCE) vereinbart werden können, und sind diese firmenbezogenen Tarifverträge von den regional zuständigen Arbeitgeberverbänden mit abzuschließen, soweit die tarifliche Regelung auch die bezirklichen Tarifentgeltsätze verändert, ist diese Klausel wirksamer Bestandteil des Tarifvertrags geworden, wenn die Tarifvertragsparteien des Manteltarifvertrages in der Vormerkung zu diesem Tarifvertrag ausdrücklich klargestellt haben, dass (auch) die Anmerkungen und Protokollnotizen von ihnen vereinbart sind und als Bestandteil dieses Tarifvertrages gelten.

5. Eine Öffnungsklausel kann sich auch auf einen anderen Tarifvertrag beziehen; dadurch nimmt der sich öffnende Tarifvertrag seinen Geltungsanspruch gegenüber dem anderen Tarifvertrag zurück.

6. Das Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG stellt eine Kollisionsregelung für das Verhältnis von schwächeren zu stärkeren Rechtsnormen dar; es ist nicht anzuwenden, wenn mehrere tarifvertragliche und damit gleichrangige Regelungen zusammentreffen.

7. Ist im Arbeitsvertrag als "maßgeblicher Tarifvertrag" "chemische Industrie" angegeben und enthält der Arbeitsvertrag eine zeitdynamische Bezugnahme auf die jeweiligen Regelungen der Verbandstarifverträge der Chemischen Industrie, bezieht sich die Bezugnahme durch die allgemeine Formulierung "chemische Industrie" nicht nur auf die tariflichen Regelungen, die das Entgelt betreffen, sondern auf das gesamte Tarifwerk der Chemischen Industrie und damit auch auf firmenbezogene Verbandstarifverträge.

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 2-3, Art. 9 Abs. 3; BGB §§ 242, 305c Abs. 2, § 611 Abs. 1, § 613a Abs. 1 S. 1; TVG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, 3; BETV-Chemische Industrie West § 10; MTV-Chemische Industrie Vorbem. Fußnote 1; FVTV § 4 Abs. 1; Ü-TV § 2 Abs. 3; ZPO § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 09.12.2014; Aktenzeichen 12 Ca 2477/14 KO)

 

Tenor

  1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz - Az.:12 Ca 2477/14 - vom 9. Dezember 2014 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Entlohnung des Klägers nach dem aus seiner Sicht jeweils einschlägigen Entgelttarifvertrag für die chemische Industrie einschließlich der entsprechenden Eingruppierung nach der Entgeltgruppe 07 sowie über Vergütungsrückstände.

Die Beklagte ist auf dem Gebiet der Verarbeitung und Entwicklung hochwertiger flexibler Packstoffe tätig und führender Erzeuger von Verpackungen für Lebensmittel und Hersteller von Folien. Sie beschäftigt am Standort C-Stadt circa 250 Mitarbeiter. Im dortigen Betrieb existiert ein Betriebsrat.

Der 1954 geborene, verwitwete Kläger ist gemäß Arbeitsvertrag vom 26. März 1987 seit dem 1. April 1987 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern beschäftigt. Er hat eine Berufsausbildung zum Großhandelskaufmann absolviert.

Er ist seit April 1987 Mitglied der IG Chemie-Papier-Keramik und seit 1997 Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (im Folgenden: IG BCE).

Der Arbeitsvertrag vom 26. März 1987 (Bl. 9 d. A.), welcher mit der Z. GmbH auf Arbeitgeb...

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