Entscheidungsstichwort (Thema)
Benachteiligung wegen des Geschlechts durch Einführung neuer Entgeltgruppen in der Schuhproduktion
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Umstand, dass ein Arbeitgeber, der jahrzehntelang Frauen durch Zahlung einer niedrigeren Vergütung für gleiche Arbeitsleistung benachteiligt hat, bereits 15 Monate nach Einführung eines einheitlichen Stundenlohns für Frauen und Männer ein neues einseitig festgelegtes Vergütungssystem anwenden will, das erneut zu einer ungleichen Bezahlung von Produktionskräften durch Aufspaltung der Tätigkeiten in zwei unterschiedlich vergütete Gehaltsgruppen führt, begründet die Vermutung der erneuten Benachteiligung von Frauen.
2. Diese Vermutung ist jedoch widerlegt, wenn der Arbeitgeber darlegen und beweisen kann, dass er den unterschiedlichen Gehaltsgruppen einzelne Arbeitsschritte im Produktionsablauf zugeordnet hat.
Normenkette
AEUV Art. 157, 267; AGG § 15 Abs. 2, § 22; EGRL 54/2006; GRC Art. 21, 23
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 12.08.2015; Aktenzeichen 11 Ca 3486/14) |
Tenor
- Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 12. August 2015, Az. 11 Ca 3486/14, wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
- Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen Benachteiligung aufgrund des Geschlechts zu zahlen.
Die Beklagte stellt Schuhe her. Sie ist nicht tarifgebunden. Im April 2014 beschäftigte sie insgesamt 270 eigene Arbeitnehmer, darunter 110 Männer und 160 Frauen. Ein Betriebsrat besteht seit Herbst 2014. Die 1977 geborene Klägerin ist bei der Beklagten, die früher unter F. Schuhproduktion GmbH firmierte, seit 02.05.2007 als Produktionsmitarbeiterin beschäftigt. Die Beklagte zahlte bis 31.12.2012 an die in der Produktion beschäftigten Frauen bei gleicher Tätigkeit einen geringeren Stundenlohn als den Männern. Ab 01.01.2013 zahlte sie weiblichen und männlichen Produktionskräften einen Stundenlohn von € 9,86 brutto. Im Januar 2013 teilte die Beklagte der Klägerin und anderen Frauen in einem Schreiben - auszugsweise - folgendes mit:
"Liebe Frau [...],
wie Sie wissen, wurden in unserem Unternehmen Frauen bislang geringer entlohnt als Männer. Diese Unterscheidung ist nach unserer Auffassung nicht mehr zeitgemäß. Daher schaffen wir sie ab. Wir möchten den kürzlich erfolgten Gesellschafterwechsel zum Anlass nehmen, künftig möglichst rasch klare und nachvollziehbare Gehaltsstrukturen zu schaffen. Der Grundlohn in unserem Unternehmen beträgt ab dem 1. Januar 2013 9,86 Euro brutto.
Hiermit heben wir Ihren Lohn ab dem Januargehalt auf 9,86 Euro brutto an. ..."
In zahlreichen Prozessen, die seit dem Jahr 2013 vor dem Arbeitsgericht Koblenz und dem Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz anhängig sind und waren, haben weibliche Produktionskräfte die Differenzbeträge zum Arbeitsentgelt männlicher Produktionskräfte für die Zeit bis zum 31.12.2012 eingeklagt. In zahlreichen Prozessen wurde den Klägerinnen neben der Entgeltdifferenz innerhalb noch unverjährter Zeit eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. € 6.000,00 zugesprochen (vgl. ua. LAG Rheinland-Pfalz 13.05.2015 - 5 Sa 440/13 und vom 21.07.2016 - 5 Sa 412/15). Der Klägerin wurde in ihrem Vorprozess (5 Sa 441/13, ArbG Koblenz 9 Ca 377/13) für die Zeit vom 01.01.2009 bis 31.12.2012 restliche Vergütung iHv. € 9.551,57 brutto und zusätzlich eine Entschädigung iHv. € 6.000,00 zugesprochen.
Am 10.04.2014 stellte die Beklagte der Belegschaft in einer Mitarbeiterveranstaltung ein neues Vergütungssystem mit fünf Entgeltgruppen (EG) für Produktionsmitarbeiter vor. Die EG gliedern sich - stark vereinfacht dargestellt - wie folgt:
EG |
Bezeichnung |
01 |
Beschicken von Maschinen unter Aufsicht |
02 |
Beschicken von Maschinen oder kompliziertere Einzeltätigkeit |
03 |
qualifiziertes Beschicken von Maschinen oder Qualitätssicherung |
04 |
Betreuung von Maschinen, Anlagen oder Instandhalter |
05 |
Leitung von Teams |
Der von der Beklagten angebotene neue Grundlohn beträgt bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 40 Wochenstunden für Vollzeitkräfte (brutto):
EG |
Grundlohn/Monat |
02 |
€ 1.851,10 |
03 |
€ 1.903,00 |
Am 10.04.2014 bot die Beklagte den Produktionsmitarbeitern neue Arbeitsverträge an. Der Klägerin bot sie einen Arbeitsvertrag als "Produktionsmitarbeiter" mit einer Entlohnung nach EG 02 an. Die Vertragsangebote verteilten sich auf die weiblichen und männlichen Produktionskräfte wie folgt:
EG |
von 160 Frauen |
von 110 Männern |
02 oder niedriger |
117 |
16 |
03 oder höher |
43 |
94 |
Der jetzige Prozessbevollmächtigte der Klägerin lehnte das Angebot mit Schreiben vom 10.06.2014, das der Beklagten am selben Tag zuging, ab. Zur Begründung führte er aus, die Beklagte habe nach seinem Kenntnisstand nahezu allen Männern, die sie als "Produktionsmitarbeiter" beschäftige, ein Vertragsangebot mit einer Entlohnung nach EG 03 unterbreitet, während sie dem ganz überwiegenden Teil der Frauen, die sie ebenfalls als "Produktionsmitarbeiter" beschä...