Entscheidungsstichwort (Thema)

Geschlechtsbezogene Benachteiligung durch neue Entgeltstrukturen in der Schuhproduktion. Unbegründete Entschädigungsklage bei unzureichenden Darlegungen der Arbeitnehmerin gegenüber einem umfangreichen Sachvortrag der Arbeitgeberin zur benachteiligungsfreien Entlohnungsstruktur

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Arbeitgeberin kann eine aus Indizien folgende Vermutung, dass sie eine jahrzehntelange Benachteiligung von Frauen bei der Entlohnung in der Schuhproduktion, die sie erst ab 01.01.2013 durch Einführung eines einheitlichen Stundenlohnes für weibliche und männliche Produktionskräfte abgestellt hatte, durch das von ihr neu entwickelte Vergütungssystems ab April 2014 wieder eingeführt hat, entkräften, indem sie nachvollziehbar dargelegt, dass ausschließlich nicht auf das Geschlecht bezogene Gründe zu einer unterschiedlichen Entlohnung der Produktionskräfte führen und das im April 2014 neu eingeführte Vergütungssystem somit nach dem konkreten Sachvortrag benachteiligungsfrei ist. Einem diesbezüglich umfangreichen Sachvortrag der Arbeitgeberin hat die klagende Arbeitnehmerin in tatsächlicher Hinsicht in erheblicher Weise entgegenzutreten, wozu ein Sachvortrag, aus dem sich weder der konkrete Inhalt einzelner Tätigkeiten noch deren zeitlicher Anteil an der gesamten Arbeitszeit entnehmen lassen, nicht ausreicht.

 

Normenkette

AEUV Art. 157, 267; AGG § 15 Abs. 2, § 22; GRCh Art. 21; EGRL 54/2006; GRCh Art. 23; EU-Grundrechtecharta Art. 21 Abs. 1, Art. 23; AEUV Art. 157 Abs. 1-2; EGRL 54/2006 Art. 4 Abs. 1 Fassung: 2006-07-05

 

Verfahrensgang

ArbG Koblenz (Entscheidung vom 12.08.2015; Aktenzeichen 11 Ca 3479/14)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 12. August 2015, Az. 11 Ca 3479/14, wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.
  2. Die Revision wird nicht zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, an die Klägerin eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen Benachteiligung aufgrund des Geschlechts zu zahlen.

Die Beklagte stellt Schuhe her. Sie ist nicht tarifgebunden. Im April 2014 beschäftigte sie insgesamt 270 eigene Arbeitnehmer, darunter 110 Männer und 160 Frauen. Ein Betriebsrat besteht seit Herbst 2014. Die 1955 geborene Klägerin ist nach ihren Angaben bei der Beklagten bzw. ihrer Rechtsvorgängerin, der Fußbett Schuhproduktion GmbH, seit mindestens 20.04.1998 als Produktionsmitarbeiterin beschäftigt. Die Beklagte zahlte bis 31.12.2012 an die in der Produktion beschäftigten Frauen bei gleicher Tätigkeit einen geringeren Stundenlohn als den Männern. Ab 01.01.2013 zahlte sie weiblichen und männlichen Produktionskräften einen Stundenlohn von € 9,86 brutto. Im Januar 2013 teilte die Beklagte der Klägerin und anderen Frauen in einem Schreiben - auszugsweise - folgendes mit:

"Liebe Frau [...],

wie Sie wissen, wurden in unserem Unternehmen Frauen bislang geringer entlohnt als Männer. Diese Unterscheidung ist nach unserer Auffassung nicht mehr zeitgemäß. Daher schaffen wir sie ab. Wir möchten den kürzlich erfolgten Gesellschafterwechsel zum Anlass nehmen, künftig möglichst rasch klare und nachvollziehbare Gehaltsstrukturen zu schaffen. Der Grundlohn in unserem Unternehmen beträgt ab dem 1. Januar 2013 9,86 Euro brutto.

Hiermit heben wir Ihren Lohn ab dem Januargehalt auf 9,86 Euro brutto an. ..."

In zahlreichen Prozessen, die seit dem Jahr 2013 vor dem Arbeitsgericht Koblenz und dem Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz anhängig sind und waren, haben weibliche Produktionskräfte die Differenzbeträge zum Arbeitsentgelt männlicher Produktionskräfte für die Zeit bis zum 31.12.2012 eingeklagt. In zahlreichen Prozessen wurde den Klägerinnen neben der Entgeltdifferenz innerhalb noch unverjährter Zeit eine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG iHv. € 6.000,00 zugesprochen (vgl. ua. LAG Rheinland-Pfalz 13.05.2015 - 5 Sa 440/13 und vom 21.07.2016 - 5 Sa 412/15). Der Rechtsstreit der Klägerin (LAG Rheinland-Pfalz 5 Sa 490/17, ArbG Koblenz 11 Ca 950/17) ist noch nicht abgeschlossen.

Am 10.04.2014 stellte die Beklagte der Belegschaft in einer Mitarbeiterveranstaltung ein neues Vergütungssystem mit fünf Entgeltgruppen (EG) für Produktionsmitarbeiter vor. Die EG gliedern sich - stark vereinfacht dargestellt - wie folgt:

EG

Bezeichnung

01

Beschicken von Maschinen unter Aufsicht

02

Beschicken von Maschinen oder kompliziertere Einzeltätigkeit

03

qualifiziertes Beschicken von Maschinen oder Qualitätssicherung

04

Betreuung von Maschinen, Anlagen oder Instandhalter

05

Leitung von Teams

Der von der Beklagten angebotene neue Grundlohn beträgt bei einer regelmäßigen Arbeitszeit von 40 Wochenstunden für Vollzeitkräfte (brutto):

EG

Grundlohn/Monat

01

€ 1.816,50

02

€ 1.851,10

03

€ 1.903,00

Am 10.04.2014 bot die Beklagte den Produktionsmitarbeitern neue Arbeitsverträge an. Der Klägerin bot sie einen Arbeitsvertrag als "Produktionsmitarbeiter" mit einer Entlohnung nach EG 01 an. Die Vertragsangebote verteilten sich auf die weiblichen und männlichen Produktions...

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