Entscheidungsstichwort (Thema)

Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung wegen sexueller Belästigung

 

Leitsatz (redaktionell)

Eine sexuelle Belästigung i.S.d. § 3 Abs. 4 AGG stellt gemäß § 7 Abs. 3 AGG eine Verletzung vertraglicher Pflichten dar. Diese stellt "an sich" bereits einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB geeignet ist. Ein sexualbezogener Übergriff ist auch dann anzunehmen, wenn die Genitalien eines anderen nicht berührt, aber unter Missachtung seines Rechts auf Selbstbestimmung, entblößt werden. Eine außerordentliche fristlose Kündigung ist unverhältnismäßig, wenn dem Arbeitgeber im Rahmen der Interessenabwägung die Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist zuzumuten ist.

 

Normenkette

AGG § 3 Abs. 4, § 7 Abs. 3; BGB § 626 Abs. 1, § 626

 

Verfahrensgang

ArbG Mainz (Entscheidung vom 16.03.2023; Aktenzeichen 5 Ca 313/22)

 

Tenor

I. Die Berufung des Klägers und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - 5 Ca 313/22 - vom 16. März 2023 werden zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Parteien jeweils zur Hälfte.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen, hilfsweise ordentlichen Kündigung der Beklagten.

Der 1973 geborene Kläger, verheiratet und einem Kind zum Unterhalt verpflichtet, ist - nach einer Tätigkeit als Aushilfe im Bereich Sonderformate ab dem 28. April 2000 - seit 02. Oktober 2000 bei der Beklagten als Mitarbeiter Sonderformate in der Niederlassung der Beklagten in C-Stadt aufgrund schriftlichen Arbeitsvertrages vom 02. Oktober 2000 mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten beschäftigt. Auf die Arbeitsplatzbeschreibung vom 19. Oktober 2016 wird verwiesen (vgl. Bl. 12 d. A.), ebenso auf den Arbeitsvertrag vom 02. Oktober 2000 (vgl. Bl. 4 ff. d. A.). Das monatliche Bruttoentgelt des Klägers betrug zuletzt 3.977,86 Euro.

Die Beklagte betreibt ein Unternehmen im Bereich Flüssigkeitsfiltration, das seine Kunden bei der Herstellung sauberer und reiner Produkte in den Branchen Pharmazeutika, Lebensmittel und Getränke, Industrie- und kommunales Wasser, Petrochemie, Schifffahrt, Automobil, Landwirtschaft, Baumaschinen und Stromerzeugung unterstützt. Die Beklagte beschäftigt regelmäßig mehr als zehn Vollzeitarbeitnehmer mit Ausnahme der zu ihrer Berufsausbildung Beschäftigten. Im Betrieb der Beklagten ist ein Betriebsrat gewählt.

In den Räumlichkeiten der Beklagten in C-Stadt hängt eine Vollversion des sog. "Ethik-Kodex" (Bl. 35 d. A.), eines Verhaltenskodex, an jeder Stempeluhr, dessen Ziff. 3 ua. betont, dass im Betrieb die Menschenrechte geachtet werden.

Am 07. April 2022 bat die bei der Beklagten eingesetzte Leiharbeitnehmerin Z. ihre Vorgesetzte Y., ihre Schicht mit der Zeugin X., ebenfalls Leiharbeitnehmerin bei der Beklagten, wechseln zu dürfen. Am 12. April 2022 nahm die Zeugin Z. auf Anraten des Betriebsratsvorsitzenden W. Kontakt zu der Personalleiterin der Beklagten V., auf, die mit der Zeugin Z. u. a. am 05., 16. und 24. Mai 2022 Gespräche führte. In der Zeit bis zum 31. Mai 2022 wurden zudem die Leiharbeitnehmerinnen X., U. und T. befragt, ebenso die Mitarbeiterin der Beklagten S.. Über die Gespräche, in denen die Zeuginnen dem Kläger sexuelle Belästigungen vorwarfen, wurden Gesprächsprotokolle erstellt, wegen deren Inhalts auf Bl. 61 ff. d. A. verwiesen wird.

Mit Datum vom 02. Mai 2022 sowie 31. Mai 2022 erhielt der Kläger jeweils Anhörungsschreiben, die sich mit dem Verdacht sexueller Belästigungen von Mitarbeiterinnen befassten (vgl. Blatt 128 f. sowie 135 ff. der Akte). Der die Vorwürfe in Abrede stellende Kläger nahm über seine nunmehrige Prozessbevollmächtigte schriftlich Stellung am 06. Mai 2022 (vgl. Bl. 130 ff. der Akte), sowie am 02. Juni 2022 (vgl. Bl. 137 ff. der Akte). Mit Schreiben vom 30. Mai 2022 wurde der Kläger durch die Beklagte freigestellt (vgl. Bl. 132 der Akte). Der Freistellung widersprach der Kläger mit Schreiben vom 31. Mai 2022 (vgl. Bl. 133 ff. der Akte).

Mit Schreiben vom 09. Juni 2022 hörte die Beklagte den Betriebsrat bezüglich der beabsichtigten außerordentlichen fristlosen, hilfsweise fristgemäßen Tatkündigung sowie der außerordentlichen fristlosen, hilfsweise fristgemäßen Verdachtskündigung des Klägers an. Wegen des Inhalts des Anhörungsschreibens wird auf Bl. 86 ff. d. A.) Bezug genommen. Der Betriebsrat stimmte unter dem 13. Juni 2022 den beabsichtigten Kündigungen zu (vgl. Bl. 107 d. A.).

Daraufhin kündigte die Beklagte mit Schreiben vom 14. Juni 2022, dem Kläger am gleichen Tag zugegangen, das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise ordentlich zum 31. Januar 2023 (vgl. Bl. 15 d. A.).

Der Kläger hat am 27. Juni 2022 beim Arbeitsgericht Mainz - Auswärtige Kammern Bad Kreuznach - Kündigungsschutzklage erhoben. Die Klage ist der Beklagten am 04. Juli 2022 zugestellt worden.

Der Kläger hat erstinstanzlich im Wesentlichen vorg...

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