Entscheidungsstichwort (Thema)

Umfang der Arbeitspflicht eines als Wassermeister beschäftigten, einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellten Arbeitnehmers. Umfang der Pflicht zur Leistung von Bereitschaftsdienst

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Mehrarbeit i.S. von § 207 SGB IX ist jede über 8 Stunden werktäglich hinausgehende Arbeitszeit.

2. Bloße Rufbereitschaft wird insoweit nicht als "Mehrarbeit" i.S. von § 207 SGB IX erfasst, als es sich bei ihr nicht um Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinne handelt. Das Verbot von Mehrarbeit in § 207 SGB IX erfasst darüber hinaus auch nicht Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit als solche, sondern ist nach seinem Schutzzweck auf die werktägliche Mehrarbeit beschränkt.

3. Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer hat keinen Anspruch darauf, gänzlich von der Einteilung zur Rufbereitschaft befreit zu werden. Denn § 207 SGB IX steht der Anordnung von Rufbereitschaft an Sonn- und Feiertagen bis zu einer effektiven Arbeitszeit von acht Stunden täglich nicht entgegen. Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit werden von § 207 SGB IX nicht erfasst.

4. Ein umfassender Befreiungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4 SGB IX oder aus dem Direktionsrecht des Arbeitgebers aus § 106 S. 1 GewO i.V. mit einer "Ermessensreduzierung auf Null".

 

Normenkette

GewO § 106; SGB IX § 164 Abs. 4 S. 1 Nr. 4, § 207; TVöD § 6 Abs. 5, § 7 Abs. 4; BGB § 611

 

Verfahrensgang

ArbG Kaiserslautern (Entscheidung vom 08.10.2019; Aktenzeichen 4 Ca 226/19)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 27.07.2021; Aktenzeichen 9 AZR 448/20)

 

Tenor

  1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Kaiserslautern - Auswärtige Kammern Pirmasens - vom 8. Oktober 2019 - 4 Ca 226/19 - wird zurückgewiesen und die weitergehende Klage wird abgewiesen.
  2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über den Umfang der Arbeitspflicht des Klägers.

Der Kläger ist bei der beklagten Verbandsgemeinde auf der Grundlage eines nicht näher mitgeteilten Arbeitsvertrags seit einem nicht näher mitgeteilten Zeitpunkt als Wassermeister beschäftigt. Die Beklagte trägt unwidersprochen vor, dass auf das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger - auf einer nicht näher mitgeteilten Grundlage - "der TVöD Anwendung" finde (Bl. 41 d.A).

Im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst zwischen der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) sowie den Gewerkschaften ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) und dbb beamtenbund und tarifunion für den Bereich Verwaltung (TVöD-V) vom 7. Februar 2006 idF vom 30. August 2019 heißt es im Abschnitt II Arbeitszeit auszugsweise:

"§ 6 Regelmäßige Arbeitszeit

(1) Die regelmäßige Arbeitszeit beträgt ausschließlich der Pausen für

a) [nicht besetzt],

b) die Beschäftigten im Tarifgebiet West durchschnittlich 39 Stunden wöchentlich, im Tarifgebiet Ost durchschnittlich 40 Stunden wöchentlich.

[...]

(5) Die Beschäftigten sind im Rahmen begründeter betrieblicher/dienstlicher Notwendigkeiten zur Leistung von Sonntags-, Feiertags-, Nacht-, Wechselschicht-, Schichtarbeit sowie - bei Teilzeitbeschäftigung aufgrund arbeitsvertraglicher Regelung oder mit ihrer Zustimmung - zu Bereitschaftsdienst, Rufbereitschaft, Überstunden und Mehrarbeit verpflichtet.

[...]

§ 7 Sonderformen der Arbeit

[...]

(3) Bereitschaftsdienst leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer vom Arbeitgeber bestimmten Stelle aufhalten, um im Bedarfsfall die Arbeit aufzunehmen. (4) Rufbereitschaft leisten Beschäftigte, die sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen. Rufbereitschaft wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Beschäftigte vom Arbeitgeber mit einem Mobiltelefon oder einem vergleichbaren technischen Hilfsmittel ausgestattet sind.

(5) Nachtarbeit ist die Arbeit zwischen 21 Uhr und 6 Uhr.

(6) Mehrarbeit sind die Arbeitsstunden, die Teilzeitbeschäftigte über die vereinbarte regelmäßige Arbeitszeit hinaus bis zur regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) leisten.

(7) Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.

(8) Abweichend von Absatz 7 sind nur die Arbeitsstunden Überstunden, die

a) im Falle der Festlegung eines Arbeitszeitkorridors nach § 6 Abs. 6 über 45 Stunden oder über die vereinbarte Obergrenze hinaus,

b) im Falle der Einführung einer täglichen Rahmenzeit nach § 6 Abs. 7 außerhalb der Rahmenzeit,

c) im Falle von Wechselschicht- oder Schichtarbeit über die im Schichtplan festgelegten täglichen Arbeitsstunden einschließlich der im Schichtplan vorgesehenen Arbeitsstunden, di...

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