Entscheidungsstichwort (Thema)
Wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB. Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit. Grundsätze zur Verdachtskündigung. Dringender Verdacht einer Pflichtverletzung
Leitsatz (redaktionell)
1. Bei einer fristlosen Kündigung ist zunächst zu prüfen, ob der Sachverhalt ohne seine besonderen Umstände "an sich", d. h. typischerweise, als wichtiger Grund geeignet ist. Alsdann bedarf es der Prüfung, ob dem Kündigenden die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unter Berücksichtigung der Umstände des Falles jedenfalls bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zumutbar ist oder nicht.
2. Das Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit kann einen wichtigen Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB bilden.
3. Der dringende, auf objektive Tatsachen gestützte Verdacht einer erheblichen Pflichtverletzung ist "an sich" als Grund für eine außerordentliche Kündigung geeignet. Dabei sind die bei Kündigungsausspruch bekannten Tatsachen von Bedeutung, auch später bekannt gewordene Umstände können den Verdacht bestärken und berücksichtigt werden.
4. Ein Verdacht ist dringend, wenn eine große Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass er zutrifft. Die Umstände, die ihn begründen, dürfen nach allgemeiner Lebenserfahrung nicht ebenso gut durch ein Geschehen zu erklären sein, das eine Kündigung nicht zu rechtfertigen vermag.
Normenkette
BGB § 280 Abs. 1, § 626; BetrVG § 102 Abs. 1; SGB V § 295 Abs. 1; EFZG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 8
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Entscheidung vom 04.11.2021; Aktenzeichen 5 Ca 98/20) |
Tenor
I.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz vom 04.11.2021, Az. 5 Ca 98/20, teilweise abgeändert und der Tenor zur Klarstellung wie folgt neu gefasst:
- Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.109,90 EUR brutto abzüglich am 29.05.2020 gezahlter 298 EUR netto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 01.06.2020 zu zahlen.
- Im Übrigen werden Klage und Widerklage abgewiesen.
II.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
III.
Die erstinstanzlichen Kosten tragen der Kläger zu 69% und die Beklagte zu 31%. Die Kosten der Berufung tragen die Beklagte zu 52% und der Kläger zu 48%.
IV.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der am 29.08.1968 geborene, ledige und keinen Unterhaltspflichten unterfallende Kläger ist seit dem 01.06.2009 bei der Beklagten im Bereich Lagerabwicklung/Lagerverwaltung auf der Grundlage des schriftlichen Arbeitsvertrages vom 28.05.2009 (Bl. 11 ff. d.A.) zu einem Bruttomonatsgehalt von zuletzt 2.623,50 EUR beschäftigt. Die Beklagte ist ein auf den Handel mit Babyprodukten spezialisiertes Unternehmen und vertreibt diese u.a. über ein Ladengeschäft an ihrem Sitz sowie online.
Von Mitte Oktober 2018 bis 31.03.2020 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Der Kläger nahm die Arbeit am 01.04.2020 wieder auf. Er wurde nicht an seinem bisherigen Arbeitsplatz im Lager eingesetzt, sondern erhielt kurzfristig anfallende Sonderaufgaben. Vom 20.04.2020 bis zum 09.05.2020 war der Kläger erneut krankgeschrieben, der 10.05.2020 fiel auf einen Sonntag. Nachdem der Kläger vom 11.05.2020 bis zum 13.05.2020 einschließlich seine Arbeitsleistung erbracht hatte, nahm er auch am Morgen des 14.05.2020 seine Arbeit zunächst auf. Die Mitarbeiterin der Beklagten Frau K.-P. legte dem Kläger eine schriftliche Arbeitsanweisung für diesen Tag vor (auf Bl 107 d. A. wird verwiesen), wonach der Kläger für eine Werbeaktion bei Altkunden Kataloge mit Kundenadressen und voraussichtlichem Gutscheinwert versehen sowie diese Daten und die Summe der Gutscheinwerte in einer Excel-Tabelle erfassen sollte. Er äußerte daraufhin gegenüber Frau K.-P.: "wer denkt sich denn einen solchen Unsinn aus? Das kann man auch einfach mit einem PC machen." Nach einem Wortwechsel mit der Mitarbeiterin meldete der Kläger sich bei ihr wegen Magenbeschwerden ab und verließ seinen Arbeitsplatz. Mit E-Mail vom gleichen Tag teilte der Kläger sodann um 13.47 Uhr (auf Bl. 109 d.A. wird verwiesen) mit, dass er bis zum 27.05.2020 krankgeschrieben worden sei. Hierüber verhält sich die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung des Dr. med. D. vom 14.05.2020 (Bl. 153 d.A.), die als Erstbescheinigung ausgestellt ist und unter Diagnose angibt "Z60G". Dieser ICD-Code ist wie folgt beschrieben:
Kontaktanlässe mit Bezug auf die soziale Umgebung
Inkl.:
Alleinlebende Person
Anpassungsprobleme an die Übergangsphasen im Lebenszyklus
Atypische familiäre Situation
Empty nest syndrome
Schwierigkeiten bei der kulturellen Eingewöhnung
Soziale Ausgrenzung oder Ablehnung
Zielscheibe feindlicher Diskriminierung und Verfolgung
Unter dem 14.06.2021 stellte Herr Dr. med. D. eine Ärztliches Attest folgenden Wortlauts aus (Bl. 239 d.A.):
"Herr K. stellte sich am 14.05.202 über meine täglich stattfindende Akutsprechstunde vor und berichtete, dass er heute auf seiner Arbeitsstelle Listen, die er von Hand habe aufnehmen müssen, nun in Excel Tabellen überführen müsse. Die vom Arbeitgeber zugeteilten Arbeiten dienten einzig und allein dazu, ihn zu schikanieren. ...