Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellung. Auslegung von Tarifverträgen. Erwerbsunfähigkeit. amtsärztl. Gutachten. Rentenantrag. schuldhaftes Zögern. Rentenbescheid
Leitsatz (amtlich)
1. Nach § 62, I MTB II beendet der die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit feststellende Bescheid eines Rentenversicherungsträgers das Arbeitsverhältnis mit Ablauf des Monats, in dem der Bescheid zugestellt wird. Nach § 62, I, Unterabs. 2 MTB II steht dem Rentenbescheid das Gutachten eines Amtsarztes gleich, wenn der Arbeiter schuldhaft den Rentenantrag verzögert hat.
2. § 62 MTB II regelt die Beendigung eines Arbeitsverhältnisses ohne Ausspruch einer Kündigung; die Bestimmung läßt den formalen Tatbestand der festgestellten Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses genügen. Damit greift die Bestimmung erheblich in den Kündigungsschutz des betroffenen Arbeitnehmers ein, der die Zulässigkeit einer Kündigung in diesen Fällen nur vom Hinzutreten weiterer Voraussetzungen abhängig macht (vgl. BAG 28.06.1995 – 7 AZR 595/94 – EZA Nr. 134 zu § 620 BGB).
Dies nötigt zur Auslegung der Tarifbestimmung, die den Wertmaßstäben des Kündigungsschutzgesetzes weitgehend Rechnung trägt.
3. Daraus folgt nach Auffassung der Kammer, dass eine Pflicht des Arbeitnehmers zur Stellung eines Rentenantrages nur dann besteht, wenn tatsächlich Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit vorliegt. Nur dann besteht die Gefahr, der § 62 I, Unterabs. 2 MTB II begegnen soll, dass der Arbeitnehmer die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Verzögerung des Rentenantrages zu Lasten des Arbeitgebers hinausschiebt. Dies ist aber dann nicht mehr der Fall, wenn sich herausgestellt hat, dass ein Rentenantrag des Arbeitnehmers zu einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht hätte führen können, da nach den Feststellungen des insoweit maßgeblichen Rentenversicherungsträgers die Voraussetzungen der Erwerbs- und/oder Berufsunfähigkeit nicht gegeben sind.
4. Steht nach dem Bescheid des Rentenversicherungsträgers fest, dass der Arbeitnehmer weder berufs- noch erwerbsunfähig ist, kann das Unterbleiben oder die Verzögerung des Rentenantrages wesentliche Interessen des Arbeitgebers nicht beeinträchtigen. Dem Arbeitnehmer, der auf der Grundlage seiner Auffassung, berufs- und erwerbsfähig zu sein, kann deshalb keine schuldhafte Verzögerung des Rentenantrages vorgeworfen werden, wenn er nach den Feststellungen des Rentenversicherungsträgers tatsächlich berufs- oder erwerbsfähig ist.
5. § 62, I MTB II stellt auf den Bescheid des Rentenversicherungsträgers ab und damit an eine formelle Voraussetzung, deren Richtigkeit nicht zu überprüfen ist. Die Feststellungen des Rentenversicherungsträgers sind in diesem Zusammenhang bindend. Eine abweichende Beurteilung durch den Arbeitgeber ist irrelevant (BAG 24.01.1996 – 7 AZR 602/95 – EZA Nr. 4 zu § 59 BAT). Auch ein nicht rechtskräftiger Bescheid des Rentenversicherungsträgers beendet das Arbeitsverhältnis (LAG Hamm, 23.10.1979 – 6 Sa 178/79 – EZA Nr. 2 zu § 59 BAT).
6. Das Arbeitsverhältnis wird nach § 62, I, Unterabs. 2 MTB II durch das Gutachten eines Amtsarztes nur dann beendet, wenn der Amtsarzt den Rechtsbegriff der Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zutreffend erfasst hat. Anders als der Bescheid des Versicherungsträgers enthält das Gutachten des Amtsarztes keine bindenden Feststellungen; der Arbeitnehmer kann den Gegenbeweis für die festgestellte Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit im Gutachten des Amtsarztes führen (BAG 08.05.69 – 2 AZR 348/68 – AP Nr. 1 zu § 59 BAT). Diesen Gegenbeweis erbringt er unter Vorlage eines Bescheides des Rentenversicherungsträgers, der von seiner fortbestehenden Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit ausgeht.
Normenkette
MTB § 62; BAT § 5a
Verfahrensgang
ArbG Koblenz (Urteil vom 27.06.1997; Aktenzeichen 2 Ca 3433/96) |
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Koblenz – Aktz. 2 Ca 3433/96 vom 27.06.1997 – wie folgt neu gefaßt:
Es wird festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht zum 30.11.1996 aufgelöst wurde.
Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
II. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der 44jährige Kläger steht seit 01.10.1975 als Arbeiter gegen einen Monatslohn von zuletzt 3.600,00 DM in den Diensten der Beklagten. Auf das Arbeitsverhältnis finden aufgrund einzelvertraglicher Bezugnahme die Bestimmungen des MTB II Anwendung. Der Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 90.
Nach längeren krankheitsbedingten Fehlzeiten teilte die Beklagte dem Kläger mit Schreiben vom 05.11.1996 mit, daß sie das Arbeitsverhältnis mit dem 30.11.1996 als beendet ansieht. Zur Begründung verweist sie auf § 62 Abs. 1 Unterabs. 2 MTB II und führt aus, der Kläger habe schuldhaft die Stellung des Rentenantrags verzögert.
Vorausgegangen war eine vertrauensärztliche Untersuchung am 19.06.1996, die zum Ergebnis hatte, daß beim Kläger eine gravierende Minderung der körperlichen Leistungsfähigkeit auf Dauer vorliege, die es rechtfertige, einen Ren...