Entscheidungsstichwort (Thema)

Auslegung des normativen Teils des Tarifvertrags. Identitätswahrende Beschäftigungszeiten und anrechenbare Beschäftigungszeiten. Dispositionsfreiheit und Einschätzungsprärogative der Tarifvertragsparteien

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrags folgt den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Bei nicht eindeutigem Wortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können.

2. Der Tarifvertrag unterscheidet zwischen Beschäftigungszeiten, die unter Wahrung der Identität des Arbeitgebers zurückgelegt worden sind, und solchen Beschäftigungszeiten, die im Wege der Anrechnung zu einer längeren Beschäftigungszeit führen. Verwendet der Tarifvertrag die Formulierung "bei demselben Arbeitgeber", ergibt die Auslegung, dass identitätswahrende Beschäftigungszeiten gemeint sind und nicht solche, die aufgrund anderer Umstände oder Vorschriften angerechnet werden können.

3. Den Tarifvertragsparteien ist es grundsätzlich freigestellt zu bestimmen, welche Zeiten welcher Tätigkeiten sie tariflich in welcher Form berücksichtigen wollen. Sie sind bei der tariflichen Normsetzung nicht unmittelbar grundrechtsgebunden. Den Tarifvertragsparteien kommt als selbständigen Grundrechtsträgern aufgrund der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu. Sie haben hinsichtlich der tatsächlichen Gegebenheiten und der betroffenen Interessen eine Einschätzungsprärogative. Sie sind nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1, Art. 9 Abs. 3; BGB § 613a Abs. 1; TVöD-BT-V § 46 Nr. 4 Nr. 9.2; TVöD-AT § 34; BAT-O § 19

 

Verfahrensgang

ArbG Dessau (Entscheidung vom 06.03.2018; Aktenzeichen 8 Ca 154/17)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 27.01.2022; Aktenzeichen 6 AZR 79/21)

 

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Dessau-Roßlau vom 06.03.2018 - 8 Ca 154/17 - wird zurückgewiesen.

Der Berufungskläger hat die Kosten seines ohne Erfolg eingelegten Rechtsmittels zu tragen.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die beiderseits organisationszugehörigen Parteien streiten im Rahmen der tariflichen Bestimmung zur Übergangsversorgung für Beschäftigte im feuerwehrtechnischen Einsatzdienst über die Anrechnung von Tätigkeitszeiten, die der Kläger vor dem 01.04.1992 nicht bei der Beklagten erbracht hat und von dieser gleichwohl beginnend ab 01.08.1988 als Beschäftigungszeit anerkannt worden sind.

Der Kläger ... war zunächst ab 01.08.1988 auf der Grundlage eines schriftlichen Dienstvertrages mit der Deutschen Volkspolizei, die dem Ministerium des Inneren der DDR unterstand, mit dem Dienstgrad Oberfeuerwehrmann als Einsatzkraft in der Betriebsfeuerwehr (VEB Filmfabrik ...) eingestellt. Sodann setzte er seine Tätigkeit unverändert ab 01.10.1990 bei der Werksfeuerwehr der Filmfabrik ... AG fort. Am 30.10.1991 beschloss die Stadtverordnetenversammlung der Stadt.... einen Antrag auf Übernahme der Immobilien, der Technik und der Feuerwehr der Filmfabrik ... AG zu stellen. Mit Bescheid der Treuhandanstalt vom 30.03.1992 ging das Objekt Feuerwache I in das Eigentum der Stadt... über. Im Übergabe-/Übernahmeprotokoll wurde außerdem die Übernahme von 34 hauptberuflichen Feuerwehreinsatzkräften, darunter dem Kläger, und die Anerkennung der bei der Betriebsfeuerwehr-Abteilung des VEB Filmfabrik ... sowie die bei der Werkfeuerwehr der Filmfabrik ... AG geleisteten Dienst- und Arbeitsjahre "als Dienstjahre im Sinne des BAT-O" vereinbart. Auf den Antrag des Klägers vom 05.05.1992 zur Anerkennung von Beschäftigungszeiten teilte ihm die Stadt Wolfen unter dem 09.11.1992 schriftlich die "Neuberechnung der Beschäftigungszeit nach §19 BAT-O/§ 6 BMT-G-O" mit: "Als Beginn der Beschäftigungszeit ergibt sich danach der 01.08.1988". Im zum Zwecke der Vereinheitlichung neugefassten schriftlichen Arbeitsvertrag des Klägers vom 18.06.1997 wurde eine Beschäftigung ab 01.08.1988 als vollbeschäftigter Angestellter im feuerwehrtechnischen Dienst auf unbestimmte Zeit ausgewiesen. Der Kläger erhält ein Entgelt nach der Entgeltgruppe 9a TVöD Anlage 1.

Mit Schreiben vom 06.12.2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Neuberechnung zur Übergangsversorgung unter Berücksichtigung von Zeiten im feuerwehrtechnischen Einsatzdienst, insbesondere "die Anrechnung der Zeit vom 01.08.1988 bis 30.09.1990 im feuerwehrtechnischen Einsatzdienst beim MdI und der Zeit vom 01.10.1990 bis 31.03.1992 bei der ORWO Filmfabrik ...AG".

Der in diesem Zusammenhang maßgeblic...

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