Entscheidungsstichwort (Thema)
Unwirksame außerordentliche Kündigung eines Justizangestellten wegen rechtswidriger Verwendung dienstlicher Betriebsmitteln zur Herstellung von Raubkopien. Versäumung der Kündigungsfrist bei verzögerter Sachverhaltsermittlung
Leitsatz (amtlich)
1. Die rechtswidrige Verwendung von Betriebsmitteln - hier u. a.: Herstellung von Raubkopien unter Verwendung ausschließlich dienstlicher Betriebsmittel durch Bedienstete eines Gerichts - ist grundsätzlich ohne weiters geeignet, einen wichtigen Grund für eine außerordentliche Kündigung zu bilden.
2. Der Arbeitgeber muss bei konkreten Anhaltspunkten auch denjenigen Umständen nachgehen, welche die Pflichtverletzung(en) des Arbeitnehmers rechtfertigen, entschuldigen oder zumindest in einem milderen Licht erscheinen lassen können. Denn zu den maßgebenden Tatsachen gehören die für als auch gegen eine Kündigung sprechenden Umstände.
3. Hat der Arbeitgeber nur Anhaltspunkte für einen Sachverhalt, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte, kann er nach pflichtgemäßem Ermessen mit der gebotenen Eile weitere Ermittlungen anstellen und insbesondere die betroffenen Arbeitnehmer anhören, ohne dass die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB zu laufen beginnt. Dies gilt allerdings nur solange, wie er aus verständigen Gründen und mit der gebotenen Eile ermittelt. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn der (öffentliche) Arbeitgeber den Dienstrechner des Arbeitnehmers im Rahmen eigener Ermittlungen (ohne Einschaltung der Polizei bzw. Staatsanwaltschaft) über einen Zeitraum von deutlich mehr als zwei Wochen untersucht, ohne dass dies nachvollziehbar erklärt wird. Auch die Einschaltung der übergeordneten Dienststelle im Rahmen dieser eigenen Ermittlungen führt nicht zur Unterbrechung der Ausschlussfrist.
4. Will der Arbeitgeber die in erster Instanz nur auf eine erwiesene Tat gestützte Kündigung im Berufungsverfahren hilfsweise noch auf den Verdacht einer schweren Vertragspflichtverletzung stützen, so ist dies nur möglich, wenn er den Arbeitnehmer vor Ausspruch der Kündigung ausdrücklich auch zu diesem Verdacht angehört hat. Darüber hinaus muss auch der Personalrat zu einer beabsichtigten Verdachtskündigung - einem eigenständigen Kündigungsgrund- beteiligt worden sein. Die Anhörung zur beabsichtigten Tatkündigung alleine beinhaltet nicht ohne weiteres auch die Anhörung zu einer beabsichtigten hilfsweisen Verdachtskündigung.
5. Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung, ob der außerordentlichen oder ordentlichen Kündigung auch eine Abmahnung ausreichend gewesen wäre, ist zu prüfen, ob Tatsachen vorliegen, welche die Pflichtverletzung in einem milderen Licht erscheinen lassen. Solche Umstände können sich insbesondere aus einem fehlenden Unrechtsbewusstsein des Arbeitnehmers ergeben. Dies kann darauf beruhen, dass Vorgesetzte über einen längeren Zeitraum das Verhalten geduldet haben, ohne hiergegen einzuschreiten und auch andere Beschäftigte die "Dienste" des betroffenen Arbeitnehmers in Anspruch genommen haben (u.a. Beamte und Richter), bei denen angenommen werden muss, dass sie dass Unrecht des Tuns hätten erkennen müssen bzw. können. Handelt es sich um eine Mittäterschaft unter Beteiligung von zwei Beamten und einem Angestellten, so ist zugunsten des betroffenen Angestellten zu berücksichtigen, dass der Arbeitgeber gegenüber den Beamten in der Folgezeit keine disziplinarischen Maßnahmen ergriffen hat.
6. Ermittelt der Arbeitgeber gegenüber mehreren etwaigen Mittätern, so ist der Personalrat hierüber vollständig zu unterrichten. Ihm muss dabei auch hinreichend deutlich mitgeteilt werden, ob es sich hierüber um amtliche Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bzw. Polizei oder lediglich um "private" Ermittlungen der Dienststelle handelt.
Normenkette
BGB § 626 Abs. 1-2; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1; PersVG ST 2004 § 67; KSchG § 1 Abs. 2 S. 1 Alt. 2
Verfahrensgang
ArbG Halle (Saale) (Entscheidung vom 04.12.2013; Aktenzeichen 3 Ca 1303/13 NMB) |
Tenor
1. Die Berufung des beklagten Landes gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 04.12.2013 - 3 Ca 1303/13 NMB - wird zurückgewiesen.
2. Das beklagte Land trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen fristlosen Kündigung vom 18. April 2013 (Bl.18 d. A.) sowie einer hilfsweisen ordentlichen Kündigung (unter Einhaltung der einschlägigen Kündigungsfrist von sechs Monaten zum Schluss eines Kalendervierteljahres zum 31.12.2013, hilfsweise zum nächst möglichen Kündigungstermin) mit Schreiben vom 13. Mai 2013 (Bl. 46 d. A.). Die fristlose Kündigung des beklagten Landes vom 18. April 2013 ist dem Kläger am 22. April 2013 zugegangen. Die hilfsweise ordentliche Kündigung des beklagten Landes vom 13. Mai 2013 hat er am 15. Mai 2013 erhalten.
Der am xx.xxx. 1954 geborene Kläger ist beim beklagten Land seit dem xx.xxx. 1992 in Vollzeit nach Maßgabe des TV-L beschäftigt.
Dienstort des Klägers ist das O. (fortan: O.) in N. Dort ...