Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen der Geltendmachung von Masseverbindlichkeiten als Nachteilsausgleichsanspruch. Pflichten des Insolvenzverwalters gegenüber den Arbeitnehmern. Rechtliche Einordnung der Forderung aus einem Nachteilsausgleich i.S. von § 113 Abs. 3 BetrVG in der Insolvenz des Arbeitgebers

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die geplante Entlassung von rd. 80 Arbeitnehmern (hier: einer in Insolvenz gefallenen Spielbank) stellt eine Betriebsänderung i.S. von § 111 S. 1 BetrVG dar.

2. Kommt zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat kein wirksamer Interessenausgleich zustande, so muss der Arbeitgeber vor der tatsächlichen Durchführung der Betriebsänderung alle Möglichkeiten einer Einigung über den Interessenausgleich ausschöpfen, um den Rechtsfolgen des § 113 Abs. 3 BetrVG zu entgehen. Erforderlichenfalls trifft ihn auch die Obliegenheit, die Einigungsstelle anzurufen.

3. Die Vorschriften der §§ 111 bis 113 BetrVG finden auch im Insolvenzverfahren Anwendung. Auch der Insolvenzverwalter muss, um die für die Masse nachteiligen Folgen aus § 113 Abs. 3 BetrVG zu vermeiden, einen Interessenausgleich versuchen, bevor er die Betriebsänderung (hier: in Form der Entlassung aller Mitarbeiter) beginnt. Diese Verpflichtung entfällt nicht deshalb, weil die Stilllegung des Betriebes die unausweichliche Folge einer wirtschaftlichen Zwangslage ist.

4. Hat der Insolvenzverwalter eines in Insolvenz gefallenen Arbeitgebers einen Interessenausgleich nicht hinreichend versucht, so steht den Arbeitnehmern ein Anspruch auf Nachteilsausgleich gem. § 113 Abs. 3 BetrVG zu.

5. Hat der Insolvenzverwalter mit der Betriebsänderung erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens begonnen, so stellt dieser Anspruch auf Nachteilsausgleich eine Masseverbindlichkeit dar.

6. Dieser Anspruch kann ohne vorherige Anmeldung zur Insolvenztabelle mit einem Feststellungsantrag geltend gemacht werden, weil Masseverbindlichkeiten nicht zur Insolvenztabelle anzumelden sind.

 

Normenkette

BetrVG § 111 Abs. 1 S. 1, §§ 112, 113 Abs. 3; InsO § 174 Abs. 1 S. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1; KSchG § 10

 

Verfahrensgang

ArbG Magdeburg (Entscheidung vom 08.01.2014; Aktenzeichen 3 Ca 1432/12)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 07.11.2017; Aktenzeichen 1 AZR 710/16)

 

Tenor

1) Auf die Berufung des Beklagten und Berufungsklägers wird das Schlussurteil des Arbeitsgerichts Magdeburg vom 08.01.2014 - 3 Ca 1432/12 - abgeändert.

Es wird festgestellt, dass der Kläger gegen den Beklagten und Berufungskläger einen Anspruch auf Nachteilsausgleich i.S.v. § 113 BetrVG i.H.v. 8.910,- € als Masseverbindlichkeit hat.

2) Die weitergehende Berufung des Beklagten und Berufungsklägers wird zurückgewiesen.

3) Die Berufung des Klägers gegen das Schlussurteil des Arbeitsgerichts Magdeburg vom 08.01.2014 - 3 Ca 1432/12 - wird zurückgewiesen. Die über die in Ziffer 1 dieses Urteils hinausgehende Klage wird abgewiesen.

4) Von den Kosten des vorliegenden Berufungsrechtsstreits 2 Sa 53/14 haben der Beklagte und Berufungskläger 4/10 und der Kläger 6/10 zu tragen.

Von den erstinstanzlichen Kosten des Ausgangsverfahrens 3 Ca 1432/12 haben der Beklagte und Berufungskläger 1/4 und der Kläger 3/4 zu tragen.

5) Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten im Berufungsverfahren noch über einen Nachteilsausgleichsanspruch der klagenden Partei nach § 113 Abs. 3 BetrVG.

Der am geborene, verheiratete, keiner Person zum Unterhalt verpflichtete Kläger, der von Beruf ist, stand seit dem in einem Arbeitsverhältnis zu dem Beklagten bzw. der Insolvenzschuldnerin, nämlich der Spielbanken GmbH. In diesem Arbeitsverhältnis war er zuletzt als beschäftigt und erzielte ein monatliches Bruttogehalt in Höhe von ca €. Auf das Arbeitsverhältnis fand der Arbeitsvertrag der Parteien vom 26.03.1993, vgl. Bl. 8 ff. d. A., Anwendung.

Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Spielbanken Sachsen-Anhalt GmbH (im Folgenden: Insolvenzschuldnerin). Die Insolvenzschuldnerin betrieb mit insgesamt rund 82 Mitarbeitern Spielbanken mit jeweils örtlichen Betriebsräten sowie einem Gesamtbetriebsrat.

Im Dezember 2009 hatte das Land Sachsen-Anhalt die Spielbanken Sachsen-Anhalt GmbH privatisiert. Mit Schreiben vom 12. Mai 2011 informierte der Bevollmächtigte der Insolvenzschuldnerin das Land Sachsen-Anhalt darüber, dass der Spielbetrieb in der Spielbank M. mit Wirkung vom 13.05.2011 eingestellt werde. Mit weiteren Schreiben vom 17. Mai 2011 hat dieser darüber hinaus mitgeteilt, dass auch der Spielbetrieb der Spielbank in H. sowie in der Zweigstelle in W. ab dem 18.05.2011 mit dem Ende des laufenden Spieltages (des 17.05.2011) eingestellt werde.

In den daraufhin ergangenen Ordnungsverfügungen des Ministeriums des Inneren des Landes Sachsen-Anhalt vom 13.05. und 17.05.2011 wurden jeweils die für die Schließung der Spielbankstandorte erforderlichen Sicherungsmaßnahmen, wie z. B. die Zählung und Sicherung des Kassenbestandes und der Spielmarken, die Begrenzung des Zutritts von Personen sowie die Aufforderung zur Mitteilung, wie d...

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