Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des Alten- und Pflegeheimbetreibers: Grenzen der Aufsichtspflicht bei einer sturzgefährdeten Heimbewohnerin
Orientierungssatz
1. Stellt der Medizinische Dienst der gesetzlichen Krankenversicherung bei der Einstufung einer Pflegeheimbewohnerin (in Pflegestufe II) deren Gangunsicherheit, Desorientierung und Inkontinenz fest, so dass diese teilweise einer personellen Unterstützung bei der Fortbewegung bedarf und dass mit vermehrtem Bedürfnis des Aufsuchens einer Toilette zu rechnen ist, begründen diese Umstände gleichwohl keine Pflicht zur ununterbrochenen Beaufsichtigung. Es genügt, wenn der Pflegeheimbetreiber bzw. dessen Personal die erforderlichen Hilfsmittel zur Fortbewegung (hier: einen sog. Rollator) zur Verfügung stellt und Unterstützung anbietet.
2. Auch bei bestehender Inkontinenz muss das Personal nicht permanent nachfragen, ob das Bedürfnis für einen Toilettengang besteht. Eine Nachfrage häufiger als 1x pro Stunde würde die Lebensqualität der Heimbewohnerin erheblich beeinträchtigen.
3. Auch eine lückenlose Überwachung durch dauernde Anwesenheit einer Pflegeperson oder Videoüberwachung ist nicht zu fordern. Dadurch würde das Recht der Heimbewohnerin auf freie Selbstbestimmung verletzt.
4. Wenn vorangegangene Stürze 7 1/2 Monate zurückliegen, muss der Bewohnerin die Möglichkeit überlassen bleiben, sich nach ihren Fähigkeiten selbstständig zu bewegen und auch in ihre Privatsphäre, ihr Zimmer, unbeobachtet zurückzuziehen. Die Fixierung der Bewohnerin im Rollstuhl oder im Bett durch Gurte oder dauerhafte Anbringung eines Bettgitters würde eine strafrechtlich relevante Freiheitsberaubung darstellen. Für die Einholung einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung besteht bei der gegebenen Sachlage kein Anlass.
5. Festzustellen ist nach alledem, dass der Heimbetreiber nicht haftet, wenn die Heimbewohnerin bei einem "Alleingang" stürzt.
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin ist die gesetzliche Krankenkasse der Frau ..., die seit dem 14. Februar 2001 auf Grund eines Heimvertrags in dem von der Beklagten betriebenen ... Berlin lebt.
Laut der bei Aufnahme in das Heim erstellten Pflegeanamnese leidet Frau ... unter anderem unter Desorientierung in Zeit und Ort, rascher Ermüdung und Kurzatmigkeit sowie Stuhl- und Harninkontinenz Aufgrund der Verwirrtheit der Versicherten soll nach den Pflegeunterlagen ein Transfer nur mit Unterstützung und Begleitung möglich sein.
Wegen Einzelheiten der Anamnese wird auf die Anlage K 1 und K 2 verwiesen.
Nach dem Pflegeplan ist Frau ... in der Lage kleinere Strecken mit Hilfe eines Rollators zu laufen den sie jedoch zeitweise vergisst was eine erhöhte Gangunsicherheit und Sturzgefahr begründet. In der Vergangenheit war es zu mehreren Stürzen der Frau ... gekommen, jedoch nicht mehr seit Aufnahme in das Pflegezentrum ... bis zum 2. Oktober 2001.
Für die Nacht wünschte sich die Versicherte die Anbringung eines Bettgitters.
Frau ... wurden wegen ihrer Inkontinenz Windeln angelegt.
Frau ... wurde aufgrund einer Begutachtung am 5. April 2001 durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) in Pflegestufe II nach SGB XI eingestuft. Auch nach dem Gutachten des MDK kann Frau ... sich mit Hilfe eines Rollators, wenn auch langsam und kleinschrittig fortbewegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Gutachten des MDK vom 11.April 2001, insbesondere auf Ziff 3.1 und 5.3 verwiesen.
An ihrem Bett ist eine Klingel angebracht, die sie jedoch fast nie nutzt, obwohl sie dazu körperlich in der Lage wäre. Um Hilfe zu holen ruft sie nach dem Pflegepersonal. Aus diesem Grund steht ihre Zimmertür stets offen.
Am 2.Oktober 2001 wurde Frau ... zunächst gegen 10.30 Uhr in ihrem Zimmer auf dem Boden liegend aufgefunden. Gegen 17.30 Uhr kam sie auf dem Flur vor ihrem Zimmer ein weiteres Mal zu Fall und erlitt eine Fraktur des linken Oberschenkels, welche in der Zeit bis zum 18. Oktober 2001 stationär im Krankenhaus Lichtenberg behandelt werden musste.
Vor den beiden Stürzen der Frau ... wurde ihr Zimmer gegen 9.30 Uhr und gegen 16.00 Uhr aufgesucht um Frühstücks- bzw. Kaffeegeschirr abzuräumen. Im Übrigen wurde das Zimmer wie bei allen Heimbewohnern einmal in der Stunde aufgesucht, um die Umstände zu kontrollieren.
Die Klägerin behauptet sie habe aufgrund des Sturzes der Frau ... Krankenhilfeaufwendungen in Höhe der Klageforderung erbracht. Sie ist der Auffassung, das Pflegepersonal der Beklagten habe nicht in erforderlichem Umfang Maßnahmen gegen das bei Frau ... vorhandene Sturzrisiko getroffen. Aufgrund der Inkontinenz der Frau ... hätte diese regelmäßig befragt werden müssen ob ein Gang zur Toilette nötig war. Notfalls hätte s...