Entscheidungsstichwort (Thema)
Hypothetische Einwilligung. Leitungsanästhesie
Normenkette
BGB § 823
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von 10.000,00 € (in Worten: zehntausend Euro) zu zahlen.
Es wird festgestellt, dass der Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger sämtliche materiellen und nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden im Zusammenhang mit der ärztlichen Behandlung vom 11.05.2006 zu ersetzen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 62 % und der Beklagte 38 %.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des je-weils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
Der Kläger nimmt den Beklagten auf Zahlung eines Schmerzensgeldes sowie auf Feststellung der Eintrittspflicht des Beklagten für alle materiellen und nicht vorhersehbaren immateriellen Schäden des Klägers anlässlich einer zahnärztlichen Behandlung durch den Beklagten am 11.05.2006 in Anspruch.
Der Kläger befand sich seit Mai 1993 in der zahnärztlichen Behandlung des Beklagten. Am 09.03.2006 wurde mit der Behandlung des Zahnes 47 des Klägers, bei dem eine Karies profunda festgestellt werden konnte, begonnen. In der Folge erschien der Kläger am 11.05.2006 bei dem Beklagten zu einer turnusmäßigen Untersuchung sowie zur weiteren Behandlung des Zahnes 47 mit einer vierflächigen Kompositefüllung. Der Zahn 47 zeigte zu diesem Zeitpunkt eine positive Vitalität. Der Beklagte nahm eine Leitungsanästhesie im rechten Unterkiefer des Klägers vor, nachdem der Kläger die auf Bl. 8 d. A. befindliche "Einverständniserklärung" unterzeichnet hatte. In dieser "Einverständniserklärung" heißt es wie folgt:
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Bei einer Leitungsanästhesie im Unterkiefer kann es auch bei größter Sorgfalt in seltenen Fällen zu einer dauerhaften Schädigung des Nervus lingualis kommen. |
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Die Ursache ist eine nicht vorhersehbare und in jedem Fall vermeidbare Verletzung des Nervus lingualis. |
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Die Folge ist eine Paraesthesie oder Anaesthesie (teilweise oder vollständige Taubheit) der betroffenen Zungenhälfte. |
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Ich erkläre mich trotz des bestehenden geringen Risikos mit einer Leitungsanästhesie bei der zahnärztlichen Behandlung einverstanden. |
Nachfolgend litt der Kläger unter Schmerzen und Taubheitsgefühlen.
Am 12.05.2006 überwies der Beklagte den Kläger, nachdem sich der Kläger bei ihm mit den oben genannten Beschwerden vorgestellt hatte, an den Hausarzt des Klägers B, ein Facharzt für Allgemeinmedizin. B überwies den Kläger sodann an den Neurologen Q. Bei diesem erfolgte im Juni und Juli 2006 jeweils ein Behandlungstermin. Sodann wurde der Kläger an den Hals-Nasen-Ohrenarzt I überwiesen.
Mit Schreiben vom 06.07.2006 forderte der Kläger den Beklagten auf, mitzuteilen, ob er mit Blick auf die Behandlung am 11.05.2006 Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche anerkenne. Mit Schreiben vom 25.07.2006 lehnte der Beklagte eine Eintrittspflicht für etwaige Schäden aus der Behandlung vom 11.05.2006 ab.
Im August 2006, Oktober 2006, Mai 2007 und November 2009 wurde der Kläger in der Gemeinschaftspraxis I und C durch I behandelt.
Der Kläger ist zunächst der Ansicht, dass er vom Beklagten fehlerhaft aufgeklärt worden sei. Er behauptet, mit ihm seien nicht die speziellen Risiken einer Leitungsanästhesie erörtert worden. Es seien überhaupt keine ergänzenden Erläuterungen des Beklagten zu der Einverständniserklärung erfolgt. Wären entsprechende Erläuterungen vorgenommen worden, hätte er die Einverständniserklärung nicht unterschrieben und die Behandlung auch nicht durchführen lassen. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass die im Unterkiefer durchgeführte Leitungsanästhesie zu einer dauerhaften Schädigung des Nervus lingualis mit der Folge einer teilweisen oder vollständigen Taubheit der betroffenen Zungenhälfte führen könne. Der Beklagte habe ihm lediglich mitgeteilt, dass er für seine Unterlagen die Einverständniserklärung benötige. Durchgelesen habe er sich die Einverständniserklärung sodann nicht, zumal er den Inhalt der Erklärung - auch mit Blick auf seine eingeschränkten Kenntnisse der deutschen Sprache - nicht verstanden hätte. Von einer Sprechstundenhilfe sei ihm im Zusammenhang mit der Unterzeichnung der Einverständniserklärung erklärt worden, dass zunächst eine Spritze gegeben werden müsse, aufgrund der es zu Schmerzen im Unterkiefer oder Zahnbereich in einem Zeitraum von 2 bis 3 Wochen kommen könne. Zum Nachweis dafür, dass die Sprechstundenhilfe ihn über diese Schmerzen aufgeklärt habe, habe er die oben genannte Einverständniserklärung unterzeichnen sollen, die ihm durch die Sprechstundenhilfe vorgelegt worden sei, nachdem diese sie ausgefüllt habe. Die Erklärung sei ihm noch nicht einmal vorgelesen worden. Er sei vielmehr genötigt worden, die Erklärung schnell zu unterzeichnen, weil der Beklagte den Behandlungsraum betreten habe. Eine Schädigung des Nervus lingualis - wie auch des Nervus buccalis und des Nervus alveolaris inferiores - sei nicht Gegenstand des Gespräches mit der Sprechstundenhilfe o...