Leitsatz (amtlich)
1. Über die generelle Abhängigkeit der Rückzahlung des empfohlenen Zertifikats von der Bonität der Emittentin bzw. Garantiegeberin (sog. allgemeines Emittentenrisiko) muss die beratende Bank auch dann aufklären, wenn dem Anleger zu einem früheren Zeitpunkt ohne Bezug zur konkreten Anlageberatung eine mehr als 150 Seiten umfassende Informationsbroschüre mit allgemeinen Hinweisen zu Wertpapieren ("Basisinformationen über Vermögensanlagen in Wertpapieren") übergeben wurde. Denn es kann schon nicht unterstellt werden, dass ein durchschnittlicher Anleger und Bankkunde eine derart umfangreiche Broschüre vollständig durchliest. Erst recht kann nicht erwartet werden, dass ihm die in der Broschüre enthaltenen Informationen zu einer Vielzahl von komplexen Anlageprodukten in dem späteren Beratungsgespräch noch so präsent sind, dass er keiner weiteren Aufklärung über die für die konkrete Anlageentscheidung bedeutsamen Umstände und insbesondere über die Produktrisiken mehr bedarf.
2. Die Pflicht der beratenden Bank zur Aufklärung über das allgemeine Emittentenrisiko entfällt auch regelmäßig nicht, wenn ein Anleger bereits früher Zertifikate erworben hatte und ihm bei diesen früheren Zertifikatskäufen von der beratenden Bank schriftliche Produktinformationen übergeben wurden. Denn die Bank darf nicht ohne weiteres unterstellen, dass der Anleger bei den vorausgegangen Zertifikatskäufen richtig und vollständig aufgeklärt wurde und die ihm zur Verfügung gestellten schriftlichen Produktinformationen gelesen und verstanden hat. Insbesondere dann, wenn die frühere Beratung von einem anderen Berater oder Institut gemacht wurde, muss zudem in Rechnung gestellt werden, dass der Anleger falsch beraten wurde und aus diesem Grund - trotz der Übergabe eines richtig und vollständig informierenden Prospekts - eine falsche Vorstellung von den Produktrisiken und sonstigen für die Anlageentscheidung bedeutsamen Umständen hat.
3. Bei einem konservativen und sicherheitsorientierten Anleger, der über das allgemeine Emittentenrisiko nicht aufgeklärt wurde, kann regelmäßig nicht angenommen werden, dass er bei ordnungsgemäßer Aufklärung in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre. Für ihn gilt daher die Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens. Dass er bereits früher Zertifikate erworben hatte, vermag diese Vermutung ebenso wenig zu entkräften wie die Tatsache, dass die Insolvenz einer Großbank vor der Lehman-Pleite für unwahrscheinlich gehalten wurde.
Tenor
1.
Der Vollstreckungsbescheid des Amtsgerichts Stuttgart vom 03.05.2011, Gesch.-Nr.: 11-8987156-0-3, wird mit der Maßgabe aufrechterhalten, dass die Beklagte verurteilt wird, an die Klägerin 102.000,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 10.04.2011 zu zahlen, Zug um Zug gegen Übertragung der von Herrn Dr. Klaus K. Dathe D., Kaiserstraße 9, 69115 Heidelberg H. erworbenen 100 Zertifikate zur ISIN: DE000A0V4E15 der Emittentin Lehman Brothers Treasury Co. B.V. an die Beklagte.
Im Übrigen wird der Vollstreckungsbescheid aufgehoben und die Klage abgewiesen.
2.
Die Beklagte trägt die weiteren Kosten des Rechtsstreits.
3.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckung aus dem Vollstreckungsbescheid darf nur fortgesetzt werden, wenn diese Sicherheit geleistet ist.
Tatbestand
Die Klägerin beansprucht von der Beklagten aus abgetretenem Recht ihres Ehemannes Dr. Klaus K. Dathe D. Schadensersatz wegen fehlerhafter Anlageberatung im Zusammenhang mit dem Erwerb von Lehman-Zertifikaten.
Der Zedent und Zeuge Dr. Klaus K. Dathe D. ist seit 2005 Kunde der Beklagten. Am 08.02.2006 eröffnete der Zedent ein Wertpapierdepot bei der Beklagten. Am 30.08.2006 beauftragte der Zedent die Beklagte mit der Einziehung seines Wertpapierdepots bei der Deutschen Apotheker- und Ärztebank D-Bank Mannheim. Im eingezogenen Depot befanden sich seinerzeit 150 Stücke eines von der Commerzbank C-Bank emittierten Zertifikats (WKN CB6860 ...). Der Wert des eingezogenen Depots, in dem sich ganz überwiegend Aktien und Fondsanteile befanden, betrug zum 31.12.2006 insgesamt 92.924,76 EUR (Jahresdepotauszug, Anlage B 5). Bei Eröffnung des Wertpapierdepots am 08.02.2006 erstellte der damals für den Zedenten zuständige Kundenberater der Beklagten Marek M. Wawrzyniak W. ein Risikoprofil (Anlage B 5 a). Dieses Risikoprofil weist den Zedenten als konservativen und sicherheitsorientierten Anleger aus. Am 31.05.2007 führte der Zedent ein Beratungsgespräch mit dem Kundenberater Oliver O. Groß G., bei dem der Zeuge Groß G. ein weiteres Risikoprofil (Anlage B 9) erstellte. In diesem Risikoprofil beantwortete der Zedent die vorgegebenen fünf Fragen zu seiner Risikoeinstellung in gleicher Weise wie im Risikoprofil vom 08.02.2006. Gleichwohl wurde die Anlagestrategie in dem neuen Risikoprofil nicht mehr als "konservativ", sondern als "ausgewogen" bezeichnet. Im Anschluss an das Beratungsgespräch vom 31.05.2...