Entscheidungsstichwort (Thema)
mündliche Anhörung. Bewährungswiderruf wegen Weisungsverstoß. Zurückverweisung im Beschwerdeverfahren
Leitsatz (amtlich)
1) Bei Prüfung des Bewährungswiderrufs wegen Weisungsverstoßes ist die mündliche Anhörung gemäß § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO zwingend, wenn nicht besonders schwer wiegende Gründe entgegenstehen. Die Aufforderung an den Probanden, einen eventuellen Anhörungswunsch dem Gericht mitzuteilen, genügt nicht.
2) Hat der erstinstanzliche Richter die Bewährung ohne die nach § 453 Abs. 1 Satz 3 StPO erforderliche mündliche Anhörung widerrufen, so muss diese ggf. im Beschwerdeverfahren nachgeholt werden; eine Zurückverweisung an den erstinstanzlichen Richter ist in der StPO nicht vorgesehen.
Normenkette
StPO § 453 Abs. 1 S. 3, Abs. 2; StGB § 56f; StPO § 309
Verfahrensgang
AG Kleve (Entscheidung vom 22.06.2012; Aktenzeichen 12 Ds 290/10) |
Tenor
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts Kleve vom 22. Juni 2012 wird kostenpflichtig als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
Durch Urteil des Amtsgerichts Kleve vom 23.06.2010 wurde der Verurteilte des Diebstahls in drei Fällen schuldig gesprochen. Er wurde dabei - sogleich rechtskräftig - zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten mit Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt. Die Bewährungszeit wurde auf drei Jahre festgesetzt. Er wurde der Aufsicht einer Bewährungshelferin unterstellt und ihm wurde die Weisung erteilt, sich einer stationären Entziehungskur zu unterziehen. Am 25.05.2012 stellte die Staatsanwaltschaft Widerrufsantrag "wegen Nichterfüllung der Auflagen" (gemeint: Weisung). Durch Beschluss vom 22.06.2012 hat das Amtsgericht die Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 56f StGB widerrufen, da der Verurteilte die Therapie abgebrochen und sich nicht mehr therapiewillig gezeigt habe. Gegen diesen ihm am 13.07.2012 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte am 19.07.2012 sofortige Beschwerde eingelegt und zur Begründung angeführt, er sei nicht angehört worden und bitte um einen Anhörungstermin bei der zuständigen Amtsrichterin.
II.
Die sofortige Beschwerde (§ 453 Abs. 2 StPO) ist im Ergebnis unbegründet.
1)
Allerdings rügt der Verurteilte zu Recht, dass beim Amtsgericht vor der Entscheidung über den Widerruf kein Termin zur mündlichen Anhörung bestimmt worden ist.
§ 453 Abs. 1 Satz 3 StPO lautet: "Hat das Gericht über einen Widerruf der Strafaussetzung wegen Verstoßes gegen Auflagen oder Weisungen zu entscheiden, so soll es dem Verurteilten Gelegenheit zur mündlichen Anhörung geben."
Diese Sollvorschrift ist dahin zu verstehen, dass die Anhörung zwingend ist, wenn nicht besonders schwer wiegende Gründe im Einzelfall entgegenstehen (OLG München StV 2009, 540, 541; OLG Karlsruhe StV 2003, 344; Graalmann-Scheerer in LR, 26. Aufl., § 453 Rdn. 16).
Schwerwiegende Gründe, die im Ausnahmefall ein Absehen von einer mündlichen Anhörung bzw. von der Ladung hierzu rechtfertigen, mögen beispielsweise die Nichtaufklärbarkeit des Aufenthaltsortes des Probanden oder seine ausdrückliche Teilnahmeverweigerung sein. Auch wenn Auflagen- und Weisungsverstöße neben - rechtskräftig abgeurteilten oder eingestandenen - schwerwiegenderen neuen Straftaten offensichtlich keine entscheidende Rolle spielen, kann unter Umständen auf eine mündliche Anhörung verzichtet werden.
Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber nicht vor. Daher wurden im vorliegenden Fall zuvor (vor dem vorliegenden Widerrufsverfahren) auch jeweils Termine zur mündlichen Anhörung anberaumt (vgl. Bewährungsheft Bl. 21, 36). Dies entsprach auch der Empfehlung der Bewährungshelferin (Bl. 19). Angesichts fehlender substantieller Angaben zu den Gründen des Therapieabbruchs war die Notwendigkeit einer mündlichen Anhörung auch aus Gründen der Aufklärungspflicht (der Strafprozess ist kein Parteiprozess; es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz zur Sicherung der Gerechtigkeit durch Aufklärung des wahren Sachverhalts) offensichtlich.
Die Aufforderung an einen Probanden, einen eventuellen Anhörungswunsch dem Gericht mitzuteilen (Bl. 46: "Falls Sie eine mündliche Anhörung wünschen, teilen Sie dies bitte umgehend dem Gericht mit"), bzw. die vom Probanden nicht wahrgenommene Möglichkeit einer Terminsvereinbarung genügen nicht (OLG Karlsruhe StV 2003, 344; LG Berlin NStZ 1989, 245; Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl., § 453 Rdn. 7; KK-StPO-Appl, 6. Aufl., § 453 Rdn. 7). Dies würde das vom Gesetzgeber angeordnete Regel-Ausnahme-Verhältnis in sein Gegenteil verkehren. Es reicht nicht, dem Probanden mitzuteilen, er solle sich bei Gericht melden, wenn er die Einhaltung gesetzlicher Formvorschriften durch das Gericht wünsche. Strafverfahren greifen - im überwiegenden Interesse der Allgemeinheit - noch stärker als andere Gerichtsverfahren tief in den grundrechtlich geschützten Bereich der Beschuldigten ein, was bei einer Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung auf der Hand liegt. Die Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Förmlichkeiten hat dabei neben ih...