Verfahrensgang

AG Bingen am Rhein (Beschluss vom 27.06.1995; Aktenzeichen 3 M 674/95)

 

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde der Gläubigerin wird der Beschluß des Amtsgerichts Bingen vom 27. Juni 1995 aufgehoben.

Das Amtsgericht wird angewiesen, über den Antrag der Gläubiger in vom 17. Mai 1995 unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer neu zu entscheiden.

2. Die Schuldnerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.

3. Der Geschäftswert wird auf 634,98 DM festgesetzt.

 

Gründe

Die Schuldnerin ist aufgrund Vollstreckungsbescheids des Amtsgerichts Bad Vilbel vom 02. August 1991 – 7 D 720/91 – verpflichtet, an die Gläubigerin 374,– DM nebst 10 % Zinsen hieraus seit 11. Juli 1991 (mit Zinsen und Vollstreckungskosten ergab dies bis zur Antragstellung am 02. März 1995 634,98 DM) zu zahlen.

Mit Schriftsatz ihres Verfahrensbevollmächtigten vom 02. März 1995 beantragte die Gläubigerin, die Forderung der Schuldnerin gegenüber dem Finanzamt Bingen auf Durchführung des Lohnsteuerjahresausgleichs bzw. der Einkommenssteuerveranlagung für das abgelaufene Kalenderjahr sowie frühere Erstattungszeiträume (1993, 1994) und auf Auszahlung des als Überzahlung auszugleichenden Erstattungsbetrages zu pfänden und der Gläubigerin zur Einziehung, zu überweisen.

Das Amtsgericht Bingen hat am 14. März 1995 den entsprechenden Pfändungs- und Überweisungsbeschluß erlassen.

Mit Schreiben vom 17. Mai 1995 beantragte der Gläubigervertreter, den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß dahingehend zu ergänzen, daß die Schuldnerin die Lohnsteuerkarten für das abgelaufene Kalenderjahr 1994 sowie für 1993 an die Gläubigerin herauszugeben hat.

Die Schuldnerin, der der Antrag zur Stellungnahme übersandt worden war, führte hierzu aus, sie besitze keine Lohnsteuerkarte für 1993 und 1994.

Mit Beschluß vom 27. Juni 1995 wies der Rechtspfleger den Antrag der Gläubigerin auf Herausgabe der Lohnsteuerkarte zurück. Zur Begründung führte er an, es bestehe kein Anspruch, weil die Gläubigerin keinen Lohnsteuererstattungsantrag für die Schuldnerin stellen könne. Verwiesen wird auf eine Zitatstelle im Kommentar von Stöber.

Gegen diesen ihnen am 29. Juni 1995 zugestellten Beschluß haben die Gläubigervertreter mit am 01. Juli 1995 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Erinnerung eingelegt.

Der Abteilungsrichter hat der Erinnerung der Gläubigerin nicht abgeholfen und die Akte der Kammer zur Entscheidung vorgelegt.

Die Erinnerung der Gläubigerin ist gem. § 11 Abs. 2 Rechtspflegergesetz in Verbindung mit § 793 ZPO als sofortige Beschwerde gegen die Entscheidung des Rechtspflegers zulässig, da der Abteilungsrichter der Erinnerung nicht abgeholfen und diese der Kammer zur Entscheidung vorgelegt hat.

Das fristgerecht eingelegte Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg.

Der Rechtspfleger hat es zu Unrecht abgelehnt, den Pfändungs- und Überweisungsbeschluß zu ergänzen und gem. § 836 Abs. 3 ZPO die Herausgabe der Lohnsteuerkarte der Schuldnerin an die Gläubigerin anzuordnen.

Bisher war in Rechtsprechung und Literatur anerkannt, daß ein Gläubiger, der den Lohnsteuererstattungsanspruch des Schuldners gepfändet hatte, die für den Erstattungsanspruch notwendigen Unterlagen, insbesondere die Lohnsteuerkarte, im Wege der Herausgabeanordnung nach § 836 Abs. 3 ZPO vom Schuldner verlangen kann.

Hieran hat sich entgegen Stöber (Forderungspfändung, 10. Aufl. Rn. 391, ebenso LG Koblenz 16. Zivilkammer DGVZ 1994, 57; LG Marburg Rpfl. 94, 512) durch das Steuerrechtsänderungsgesetz 1992 nichts geändert. Durch das Steuerrechtsänderungsgesetz ist an die Stelle des Lohnsteuerjahresausgleichs die „Antragsveranlagung” getreten. Die Änderung zum Lohnsteuerjahresausgleich besteht darin, daß die bisherige neben der Pflichtveranlagung bestehende Antragsveranlagung um die „Anrechnung von Lohnsteuer auf die Einkommenssteuer” ergänzt wurde (vgl. LG Göttingen, Rpfl. 94, 372).

Das heißt, Arbeitnehmer, die nicht bereits aus anderen Gründen verpflichtet sind, eine Einkommenssteuererklärung abzugeben, können zum Zwecke des Steuerausgleichs die Veranlagung zur Einkommenssteuer beantragen.

Daß der Gläubiger damit – wie Stöber meint – sowohl das Antragsrecht als auch das Urkundsvorlagerecht verloren habe, überzeugt nicht. Denn § 46 Abs. 1 AO 1977, der die Pfändbarkeit des Steuererstattungsanspruchs vorsieht, ist durch das Steuerrechtsänderungsgesetz nicht verändert worden, d.h. der Steuererstattungsanspruch ist nach wie vor pfändbar. Dann muß jedoch der Gläubiger, um diesen gepfändeten Anspruch geltend machen zu können, sowohl ein Antragsrecht haben als auch die zur Bearbeitung des Steuererstattungsantrags erforderliche Lohnsteuerkarte herausverlangen können. Die Kammer macht sich insoweit die überzeugenden Ausführungen der Landgerichte Göttingen (Rpfl. 1994, 374), Osnabrück (Rpfl. 1994, 374 ff.), Dortmund (Rpfl. 1994, 511), Zweibrücken (Juristisches Büro 1995, 437) Köln (Juristisches Büro 1995, 440 ff.), Karlsruhe (Juristisches Büro 95, 441) und Koblenz (2. Zivilkammer, Juristisches Büro 1994, 742) zu eigen und nimmt hi...

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