Leitsatz (amtlich)
Keine Beleidigung durch die Bezeichnung als Homosexueller
Verfahrensgang
AG Tübingen (Entscheidung vom 01.03.2012; Aktenzeichen 9 Ds 13 Js 10523/11) |
Tenor
Die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amtsgerichts Tübingen vom 01.03.2012 wird mit der Maßgabe verworfen, dass der Tenor wie folgt neu gefasst wird:
1.
Der Angeklagte wird wegen Beleidigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Beleidigung in 4 tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung in 2 tateinheitlichen Fällen sowie wegen Bedrohung in 2 tateinheitlichen Fällen zu der
Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15,- Euro
verurteilt.
Im Übrigen wird der Angeklagte freigesprochen.
2.
a)
Der Angeklagte trägt die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens und seine notwendigen Auslagen im Umfang seiner Verurteilung. Soweit er freigesprochen wurde, trägt die Staatskasse die Verfahrenskosten und die notwendigen Auslagen des Angeklagten.
b)
Die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.
Gründe
I.
Am 01.03.2012 wurde der Angeklagte vom Amtsgericht Tübingen wegen Beleidigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, wegen Beleidigung in vier tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen, wegen Beleidigung in vier tatmehrheitlichen Fällen sowie wegen Bedrohung in zwei tateinheitlichen Fällen zu der Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15 € verurteilt.
Gegen dieses Urteil legte die Staatsanwaltschaft form- und fristgerecht Berufung ein, die schon vor Beginn der Berufungshauptverhandlung schriftsätzlich auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt worden war. Vorrangiges Ziel war die Verurteilung zu einer höheren Strafe; zuletzt wurde in der Berufungshauptverhandlung eine Gesamtgeldstrafe von 150 Tagessätzen zu je 10 € beantragt.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.
II.
1.
Durch die wirksame Rechtsmittelbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch sind der Schuldspruch und die ihn tragenden tatsächlichen und rechtlichen Feststellung des erstinstanzlichen Urteils im Hinblick auf die Taten II. Ziff. 1. bis 3. und 5. des amtsgerichtlichen Urteils in Rechtskraft erwachsen und damit für die Kammer bindend geworden. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die entsprechenden Feststellungen im angefochtenen Urteil, dort unter II. Ziffer 1. bis 3. und 5. (bis S. 5, einschl. 4. Absatz) sowie IV. (mit Ausnahme der Umschreibung "der Beleidigung in vier tateinheitlichen Fällen", IV. 4. Zeile), verwiesen.
2.
Im Hinblick auf II. Ziff. 5. des amtsgerichtlichen Urteils hat die Kammer durch Vernehmung des Zeugen I sowie Verlesung einer Erklärung des Zeugen D vom 09.07.2012 ergänzend festgestellt, dass die Mütter der beiden Zeugen zur Tatzeit noch lebten. Die "nahestehende Person" im Sinne des § 241 StGB muss jedenfalls tatsächlich existieren, da die Bedrohung nur vermeintlich lebender Personen nicht ausreicht (BVerfG NJW 1995, 2776; Fischer, StGB, 59. Aufl. 2012, § 241 Rn. 4a).
3.
Die Rechtsfolgenbeschränkung war von der Staatsanwaltschaft bereits durch Schriftsatz vom 18.05.2012 (Bl. 106 d. A.), der in der Berufungshauptverhandlung verlesen wurde, wirksam erklärt worden. Darin war das Berufungsziel folgendermaßen formuliert:
"Ziel der gegen das Urteil des Amtsgerichts Tübingen vom 01.03.2012 - Az.: 9 Ds 13 Js 10523/11 - eingelegten Berufung vom 01.03.2012 ist eine Verurteilung mindestens zu einer Geldstrafe, die deutlich über 90 Tagessätzen liegt.
Das Strafmaß wird hinsichtlich der einzelnen Taten, aber insbesondere auch in seiner Gesamtheit, dem Unrechtsgehalt der Taten nicht gerecht."
Es ist anerkannt, dass die Beschränkung nicht ausdrücklich erklärt zu werden braucht. Sie kann sich insbesondere aus Wortlaut und Sinn der Berufungsbegründung ergeben, wobei bei Erklärungen der Staatsanwaltschaft und des Verteidigers gegenüber denjenigen eines rechtsunkundigen Angeklagten ein strengerer Maßstab anzulegen ist (Meyer-Goßner, StPO, 54. Aufl. 2011, § 318 Rn 2). Eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch liegt hier vor, da die Feststellungen des Amtsgerichts zur Sache und die rechtliche Würdigung der festgestellten Taten in der schriftlichen Erklärung der Staatsanwaltschaft zum Berufungsziel nicht angegriffen wurden.
Die grundsätzlich mögliche Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch war jedoch im Hinblick auf die Tat II. Ziff. 4. des amtsgerichtlichen Urteils unwirksam.
Eine Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch setzt voraus, dass die Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils zum Schuldspruch eine ausreichende Grundlage für die Entscheidung des Berufungsgerichts über die Rechtsfolge bilden. Das trifft im Hinblick auf die Taten II. Ziff. 1. bis 3. und...