Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Voraussetzung einer Versorgung mit Cannabis gemäß § 31 Abs 6 S 1 Nr 1 Buchst b SGB 5. Dokumentationspflicht bezüglich des Krankheitszustandes des Versicherten. Erfordernis einer begründeten, schlüssigen, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Einschätzung des Vertragsarztes bezüglich der im Einzelfall nicht bestehenden Anwendbarkeit allgemein anerkannter Behandlungsalternativen
Leitsatz (amtlich)
Die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes nach § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V muss (auch) den Krankheitszustand des Versicherten dokumentieren und eine Abwägung enthalten, mit der zum Ausdruck gebracht wird, ob, inwieweit und warum eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Anwendung kommen kann. Schließlich muss die Einschätzung in sich schlüssig und nachvollziehbar sein; sie darf nicht im Widerspruch zum Akteninhalt im Übrigen stehen (vgl LSG Essen vom 25.2.2019 - L 11 KR 240/18 B ER = juris RdNr 69ff; LSG Schleswig vom 26.6.2019 - L 5 KR 71/19 B ER; siehe auch Senatsbeschluss vom 1.10.2018 - L 11 KR 3114/18 ER-B).
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 09.11.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Streitig ist die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten.
Der 1989 geborene und bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller leidet ua an einem generalisierten tendomyopathischen WS-Syndrom bei -Fehlstatik, multiplen Arthralgien sowie den Folgen eines Fahrradunfalls 09/2003 mit diversen Verletzungen. Am 28.01.2020 stellte er einen Antrag auf Kostenübernahme von Cannabis-Arzneimitteln nach § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). Im beigefügten Arztfragebogen vom 21.01.2020 gab der behandelnde Facharzt für Allgemeinmedizin R. an, wegen des chronischen Schmerzsyndroms bei Zustand nach Fahrradunfall im September 2003 und diverser orthopädischer Probleme solle dem Antragsteller der Wirkstoff Dronabinol mit einer Tagesdosis von zwei Kapseln verordnet werden zur Schmerzlinderung und um die Verordnung von Opioiden zu vermeiden. Gegenwärtig werde er mit Mirtalich und Tilidin behandelt. Die Medikation sei zur Beherrschung der Beschwerden unzureichend. Bei Opioiden bestehe in Anbetracht der psychischen Verfassung eher die Gefahr der Sucht. Der Antragsteller neige zudem zu depressiven Episoden. Auf Nachfrage des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) führte der Allgemeinarzt R. am 31.01.2020 ergänzend aus, dem Antragsteller sollten Medizinal-Cannabisblüten sowie ein Verdampfersystem verordnet werden. Als bisherige Behandlung seien laufend Krankengymnastik und diverse Konzile (ua Neurochirurgie bei Dr. B., der Cannabinoide befürworte) durchgeführt worden. Es gebe keine alternative Behandlungsmöglichkeit, der Antragsteller sei austherapiert.
In seinem MDK-Gutachten vom 18.02.2020 verneinte Dr. H. das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Verordnung der begehrten Cannabinoide. Es könne zum einen nicht eindeutig von einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne von § 31 Abs 6 SGB V ausgegangen werden. Zum anderen stünden zur Behandlung von Schmerzen bei verschiedenen Krankheitsbildern leitliniengerechte Therapieoptionen grundsätzlich zur Verfügung. Falls die Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung im vorliegenden Fall gegen die Therapie mit Opioiden spreche, so gelte dies im gleichen Maße für eine Therapie mit einem Cannabispräparat. Allerdings lägen Hinweise dafür vor, dass Cannabinoide bei chronischen Schmerzen den Verlauf und die Ausprägung bei akzeptabler Verträglichkeit spürbar positiv beeinflussen könnten. Der Gesetzgeber habe zwar auf die Nennung von konkreten Kontraindikationen und Warnhinweisen in § 31 Abs 6 SGB V verzichtet, in den Fachinformationen der bisher in Deutschland zugelassenen Cannabinoid-Präparate Sativex und Canemes finde sich jedoch als Kontraindikation ua Anamnese von schwerer Persönlichkeitsstörung oder einer anderen erheblichen psychiatrischen Störung mit Ausnahme einer Depression, die mit ihrem zu Grunde liegenden Zustand in Verbindung stehe.
Im Hinblick auf das Gutachten des MDK lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 18.02.2020 die Genehmigung der Versorgung des Antragstellers mit Cannabisblüten ab.
Mit seinem Widerspruch vom 24.02.2020 machte der Antragsteller geltend, er leide an einer schwerwiegenden Erkrankung. Mittlerweile habe er sich Cannabis auf Privatrezept selbst besorgt. Ihm gehe es danach erheblich besser. Der Gutachter habe auch nicht beachtet, dass er bereits als austherapiert gelte. Die Suchtgefahr bei Cannabis sei wesentlich geringer als bei Opiumderivaten. Die Einschätzung des Gutachters könne die Einschätzung des behandelnden Arztes nicht ersetzen. Daher dürfe die Genehmigung nur in begründeten Ausnahmefällen abgele...