Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. kein Erlass einer Regelungsanordnung zur vorläufigen Versorgung mit Cannabinoiden bei dringendem Verdacht auf eine Suchtmittelerkrankung
Leitsatz (amtlich)
Besteht der dringende Verdacht, dass ein Versicherter (auch) an einer Suchtmittelerkrankung leidet, scheidet der Erlass einer Regelungsanordnung, mit der die Krankenkasse verpflichtet wird, den Versicherten vorläufig mit Cannabinoiden zu versorgen, idR aus.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Mannheim vom 30.10.2020 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Gewährung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Gründe
I.
Streitig ist die vorläufige Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Übernahme der Kosten für die Versorgung mit medizinischen Cannabisblüten.
Der 1986 geborene und bei der Antragsgegnerin krankenversicherte Antragsteller leidet nach Angaben seines behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. P. an einem chronischen Schmerzsyndrom, einer rezidivierenden depressiven Störung, einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Persönlichkeitsstörung sowie ADHS. Seit 01.06.2020 verfügt er über einen Pflegegrad 1, vor allem begründet mit verbaler Aggression, Ängsten und Antriebslosigkeit bei depressiver Stimmungslage (Pflegegutachten vom 13.07.2020) und basierend auf den pflegebegründenden Diagnosen Depressive Episode sowie Angststörung.
Am 20.04.2020 stellte er über seinen behandelnden Arzt Dr. P. einen Antrag auf Kostenübernahme von Cannabis-Arzneimitteln nach § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V). In der ärztlichen Bescheinigung führte Dr. P. aus, zuletzt sei Oxycodon verordnet worden, außerdem erfolge derzeit eine Psychotherapie (Verhaltenstherapie). Trotz einer adäquaten und intensiven Therapie sei bisher keine anhaltende Stabilisierung erreicht worden. Bereits bei alltäglichen Belastungen sei eine rasche Überforderung mit nachfolgender Dekompensation zu erwarten. Behandlungsziel sei einer Linderung der Symptome sowie Verbesserung der Lebensqualität. Die Erkrankung sei schwerwiegend, es sei zum kompletten Verlust der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gekommen. Ohne eine ausreichende Therapie sei eine zunehmende Verschlimmerung zu beobachten. Alle Standardtherapien seien bereits leitliniengerecht durchgeführt worden. Nach dem (selbstfinanzierten) Konsum von Cannabisblüten habe der Antragsteller problemlos ein- und durchschlafen sowie in den Verhaltenstherapien Ängste proaktiv besprechen und angehen können. Im Übrigen sei unverständlich, dass die Kosten beim Antragsteller abgelehnt, bei anderen, weniger kranken Patienten aber übernommen würden.
Mit Bescheid vom 21.04.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Kosten für Cannabisblüten ab mit der Begründung, wissenschaftlich nachprüfbare Studien, die eine Wirksamkeit der beantragten Therapie bei der vorliegenden Erkrankung belegten, fehlten.
Nachdem der Antragsteller hiergegen Widerspruch eingelegt hatte, holte die Antragsgegnerin beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) ein sozialmedizinisches Gutachten ein (Gutachten vom 06.05.2020), worin Dr. N. darlegte, dem Medikationskonto der Kasse seien seit 2018 bis 3/2020 lediglich folgende Einträge zu entnehmen: 2018 1 x Amoxicillin, 3 x Novaminsulfon, 2019 1 x Novaminsulfon, 2020 1 x Tramadol. 2011 sei eine Orthese verordnet worden, ansonsten fänden sich keinerlei Einträge über Physiotherapie, Psychotherapie, Krankenhausaufenthalte, Rehaaufenthalte etc. Fachärztliche Befunde über die angegebenen Diagnosen fehlten. Diese ließen sich anhand des Leistungsauszugs der Kasse nicht bestätigen. Es werde nicht einmal angegeben, aus welcher zugrundeliegenden pathologischen Veränderung die chronische Schmerzstörung beruhen solle. Insofern sei nicht von einer schwerwiegenden Erkrankung iSd § 31 Abs 6 SGB V auszugehen. In Bezug auf eine chronische Schmerzstörung stünden Behandlungsalternativen zur Verfügung, abhängig von der Art bzw Ursache des Schmerzes. Vorliegend sei bisher offensichtlich eine Bedarfsmedikation an Schmerzmitteln eingesetzt worden, eine konsequente Behandlung sei nicht ersichtlich. Gleiches gelte für die Depression, da der Antragsteller bisher keinerlei Psychopharmaka erhalten habe und auch hier etablierte Standardtherapien nicht ausgeschöpft seien. Die Erkrankung ADHS - falls sie tatsächlich vorläge - sei bisher ebenso wenig wie die PTBS - die sich den Unterlagen im Übrigen nicht entnehmen lasse - adäquat behandelt worden. Im Übrigen ergebe die Literaturrecherche, dass Cannabinoide lediglich bei chronischen Schmerzen und PTBS, nicht aber bei Depressionen sowie ADHS die Erkrankung spürbar positiv beeinflussten. Im Ergebnis fehle es an einer schwerwiegenden Erkrankung und stünden zahlreiche medikamentöse und nicht-medikamentöse Verfahren zu Behandlung zur Verfügung.
Mit weiterem Bescheid vom 20.05.2020 lehnte die Antragsgegnerin ...