Entscheidungsstichwort (Thema)
Versäumung einer Rechtsmittelfrist wegen Abwesenheit
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine Berufung ist nicht zurückgenommen, wenn gleichzeitig mit der Erklärung der Berufungsrücknahme der Widerruf der Berufungsrücknahme bei Gericht eingeht. Das gilt auch, wenn der Widerruf erst am Tag nach der Rücknahmeerklärung verfasst worden ist.
2. Die Versäumung einer Rechtsmittelfrist ist nicht durch Ortsabwesenheit entschuldigt, wenn der Betroffene wusste, dass die Zustellung der anfechtbaren Entscheidung zu erwarten war.
Normenkette
SGG § 64 Abs. 2 S. 1, Abs. 3, § 67 Abs. 1-2, § 151 Abs. 1-2, § 156 Abs. 1 S. 1
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 21. November 2016 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten auch des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII).
Nachdem der Beklagte mit Bescheid vom 19. November 2015 und Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 2016 Anträge des Klägers auf Übernahme von Kosten im Zusammenhang mit einer Wohnungssuche und einem Umzug abgelehnt hatte, hat der Kläger am 11. Juli 2016 Klage beim Sozialgericht Freiburg (SG) erhoben.
Der Beklagte ist der Klage entgegengetreten.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 21. November 2016 aufgrund mündlicher Verhandlung, an der der Kläger teilgenommen hatte, abgewiesen.
Gegen das ihm am 8. Dezember 2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 23. Januar 2017 Berufung eingelegt. Die Monatsfrist für die korrekte Erhebung der Berufung sei abgelaufen. Hierfür entschuldige er sich.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 21. November 2016 aufzuheben sowie den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 19. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2016 zu verurteilen, ihm Leistungen in Höhe von 765,94 € zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Der Beklagte ist der Ansicht, dass die Berufung verfristet eingelegt worden sei.
Auf den Hinweis des Berichterstatters, dass beabsichtigt sei, die Berufung durch Beschluss wegen Verfristung als unzulässig zu verwerfen, hat der Kläger sinngemäß vorgebracht, dass nicht ein Fristversäumnis dafür entscheidend sein könne, ob ein Gericht für die Gerechtigkeitsfindung zuständig sei. Der Rechtsstreit sei im gesamten Jahr 2016 für ihn lebensbestimmend und zusätzlich auch existenzbedrohend gewesen. Wenn das SG diese Ungerechtigkeit ihm gegenüber nicht erkannt habe, dann müsse es noch eine zweite Anlaufstelle geben, welche sich seines Rechtsstreites annehme.
Mit Schreiben vom 20. Februar 2017 hat der Kläger die formularmäßige Erklärung, seine Berufung zurückzunehmen, vorgelegt. Mit Schreiben vom 21. Februar 2017 hat der Kläger mitgeteilt, er nehme seine Berufung nicht zurück. Er habe sich von Anfang Dezember 2016 bis Samstag, den 14. Januar 2017, bei seiner Mutter in B. aufgehalten. Anschließend habe er erst das Urteil des SG in seinem Briefkasten vorgefunden. Die Schreiben des Klägers vom 20. und 21. Februar 2017 sind beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zeitgleich am 22. Februar 2017 eingegangen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte des Beklagten Bezug genommen.
II.
1. Die Berufung des Klägers ist unzulässig und daher gemäß § 158 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verwerfen.
a) Der Entscheidung des Senats steht nicht entgegen, dass der Kläger seine Berufung bereits im Sinne des § 156 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückgenommen hätte. Zwar hat der Kläger mit Schreiben vom 20. Februar 2017 die formularmäßige Erklärung übersandt, dass er die Berufung zurücknehme. Mit Schreiben vom 21. Februar 2017 hat er jedoch mitgeteilt, dass er die Berufung nicht zurücknehme. Da beide Schreiben beim LSG zeitgleich eingegangen sind, liegt keine Erklärung der Berufungsrücknahme vor. Es handelt sich aufgrund dieser besonderen Konstellation nicht um einen Fall des (grundsätzlich unzulässigen) Widerrufs der Berufungsrücknahmeerklärung. Vielmehr lag von vorneherein keine Berufungsrücknahmeerklärung vor, weil keine Erklärung vorlag, der sich der unzweideutige Wille des Berufungsklägers, das Verfahren beenden zu möchten, entnehmen lässt, denn gleichzeitig beim Gericht eingehende Äußerungen der Beteiligten sind insgesamt zu würdigen (im Ergebnis ebenso Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 156 Rdnr. 2a; siehe auch den Rechtsgedanken des § 130 Abs. 1 Satz 2 Bürgerliches Gesetzbuch).
b) Die Berufung des Klägers ist aber verfristet.
aa) Gemäß § 151 Abs. 1 SGG ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Nach § 151 Abs. 2 SGG ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn...