Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialhilfe. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht bzw bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Überbrückungsleistungen. Härtefall. Dauer der Leistungsgewährung. vollziehbare Ausreisepflicht. Unionsbürger. Feststellung des Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts
Orientierungssatz
1. Überbrückungsleistungen nach § 23 Abs 3 S 6 SGB 12 sind an Unionsbürger für die Zeit des tatsächlichen Aufenthalts bis zur vollziehbaren Ausreisepflicht zu gewähren.
2. Für eine vollziehbare Ausreisepflicht bedarf es der Feststellung des Nichtbestehens eines Freizügigkeitsrechts durch die Ausländerbehörde nach § 7 Abs 1 FreizügG/EU 2004, die auch bestandskräftig sein muss.
Tenor
Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 30. Mai 2022, mit dem das SG die Antragsgegnerin zeitlich befristet zur Bewilligung von Überbrückungsleistungen vorläufig darlehensweise verpflichtet hat, wird zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller seine außergerichtlichen Kosten auch im Beschwerdeverfahren zu erstatten.
Dem Antragsteller wird ratenfreie Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt P, 72764 Reutlingen bewilligt.
Gründe
Die Beschwerde der Antragsgegnerin hat keinen Erfolg.
Die Antragsgegnerin wendet sich gegen die Verpflichtung durch das Sozialgericht Reutlingen im Beschluss vom 30.5.2022, dem Antragssteller weiterhin Überbrückungsleistungen im Sinne von § 23 Abs. 3 SGB XII vorläufig darlehensweise bis zum Abschluss der Hauptsache, längstens für 6 Monate zu bewilligen. Sie begründet ihre Beschwerde damit, dass der Betreuer des Antragstellers durchaus in der Lage sei, eine Rückkehr nach Rumänien in die Wege zu leiten. Da keine Aussicht darauf bestehe, dass ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland erwirkt werde, mache es keinen Sinn eine Rückreise nach Rumänien zeitlich weiter hinauszuzögern. Aufgrund der Vorkommnisse in den vergangenen Monaten sei nicht damit zu rechnen, dass sich der Zustand des Antragstellers in den nächsten Wochen und Monaten wesentlich ändern werde. Er habe offensichtlich kein Interesse an einer Verbesserung seiner Lebenssituation. Von einer zeitlich befristeten Bedarfslage könne beim Antragsteller nicht mehr die Rede sein. Die Voraussetzungen des § 23 Abs. 3 Satz 3 SGB XII lägen deshalb in diesem Fall nicht mehr vor.
Die am 24.6.2022 beim Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg eingegangene Beschwerde ist gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und nach § 173 SGG insbesondere form- und fristgerecht erhoben worden.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragsstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Ein Anordnungsgrund ist dann gegeben, wenn der Erlass der einstweiligen Anordnung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 SGG). Dies ist der Fall, wenn es dem Antragssteller nach einer Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten (Keller in Mayer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 13. Auflage 2020, § 86b Rn. 28). Die Erfolgsaussicht des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung (ZPO)). Dabei begegnet es grundsätzlich keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn sich die Gerichte bei der Beurteilung der Sach- und Rechtslage aufgrund einer summarischen Prüfung an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren (BVerfG, 02.05.2005, 1 BvR 569/05, BVerfGK 5, 237, 242). Allerdings sind die an die Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs und Anordnungsgrundes zu stellenden Anforderungen umso niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere auch mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz - wiegen (vgl. BVerfG NJW 1997, 479; NJW 2003, 1236; NVwZ 2005, 927). Die Erfolgsaussichten der Hauptsache sind daher in Ansehung des sich aus Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) ergebenden Gebots der Sicherstellung einer menschenwürdigen Existenz sowie des grundrechtlich geschützten Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) u.U. nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; ist im Eilverfahren eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so ist bei besonders folgenschweren Beeinträchtigungen eine Güter- und Folgenabwägung unter Berücksichti...