Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. unerkanntes Teilurteil unerkannter Teilbeschluss
Leitsatz (amtlich)
Auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gelten die für ein unerkanntes Teilurteil entwickelten Grundsätze. Hat das Sozialgericht einen Antrag unrichtig zu eng ausgelegt, aber ersichtlich eine abschließende Entscheidung und keinen gewollten Teilbeschluss erlassen, ist im Beschwerdeverfahren über das vollständige Begehren zu entscheiden. Die Regelungen über die Urteils- bzw. Beschlussergänzung (§ 140 SGG) sind nicht anzuwenden.
Tenor
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Reutlingen vom 15. November 2007 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die unter Beachtung der Vorschrift des § 173 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers, der das Sozialgericht Reutlingen (SG) nicht abgeholfen hat (§ 174 SGG), ist zulässig. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das SG hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.
Entsprechend § 123 SGG entscheidet das Gericht über die vom Antragsteller erhobenen Ansprüche, ohne an die Fassung der Anträge gebunden zu sein. Der Sache nach begehrt der Antragsteller bei Auslegung seines Schreibens vom 8. November 2007 die Feststellung seiner Berechtigung, in Zukunft jegliche Mitwirkungspflicht (ggf. beschränkt auf die Gewährung des Zutritts bei Hausbesuchen) gegenüber der Antragsgegnerin zu verweigern. Soweit das SG den Antrag dahingehend ausgelegt hat, der Antragsteller begehre eine einstweilige Anordnung gegen den am 8. November 2007 beabsichtigten Hausbesuch, trifft dies nach Auffassung des Senats nicht den Kern des Begehrens. Gleichwohl ist der Senat nicht gehindert, nunmehr in der Sache zu entscheiden.
Hat ein Gericht bewusst über einen gestellten Antrag nicht entschieden, handelt es sich der Sache nach um ein Teilurteil (-beschluss), was zur Fortführung des Verfahrens hinsichtlich des noch nicht entschiedenen Teils führt (vgl. Meyer-Ladewig in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., § 125 Rdnr. 3a-3c). Hat das Gericht über einen gestellten Antrag versehentlich nicht entschieden, kommt eine Urteilsergänzung nach § 140 Abs. 1 Satz 1 SGG in Betracht. Die Vorschriften über die Urteilsergänzung sind auf Beschlüsse über Anträge im einstweiligen Rechtsschutz analog anzuwenden (vgl. Landessozialgericht ≪LSG≫ Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2004 - L 4 B 23/04 KR - ≪juris≫; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫, Beschluss vom 13. September 2005 - 11 CS 05.987 - ≪juris≫). Ist der Antrag auch im Tatbestand nicht enthalten, muss zuvor Antrag auf Tatbestandsberichtigung nach § 139 Abs. 1 SGG gestellt werden, welche binnen zwei Wochen nach Zustellung des Urteils beantragt werden kann (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., § 140 Rdnr. 2b). Die Urteilsergänzung kann nur binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils beantragt werden (§ 140 Abs. 1 Satz 2 SGG). Ist die Frist versäumt, entfällt die Rechtshängigkeit des beim SG anhängig gebliebenen Teils, ggf. muss erneut Klage erhoben werden (vgl. Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫, BVerwGE 81, 12, 14; 95, 269, 274). Ausnahmsweise können im Wege der Klageänderung bzw. -erweiterung nach § 99 Abs. 1 SGG bei Einverständnis aller Beteiligter Ansprüche zum Gegenstand des Rechtsmittelverfahrens gemacht werden, über die das SG nicht entschieden hat (sog. Heraufholen von Prozessresten; vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 99 Rdnr. 12 m.w.N.). Hat das Gericht dagegen einen gestellten Antrag unrichtig ausgelegt, liegt kein Fall der Urteilsergänzung vor. Vielmehr hat das Gericht hier ein Vollendurteil erlassen, das mit dem jeweiligen Rechtsmittel angegriffen werden kann (BVerwG, Beschluss vom 25. August 1992 - 7 B 58/92, 7 B 113/92 - Buchholz 310 § 120 Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫ Nr. 7; BVerwG, Urteil vom 15. März 1984 - 2 C 24.83 - Buchholz 310 § 88 VwGO Nr. 15 m.w.N.). Unter Beachtung dieser sinngemäß auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 86b SGG geltenden Grundsätze ist im Beschwerdeverfahren das gesamte Vorbringen des Antragstellers zu berücksichtigen, denn das SG hat irrtümlich den Antrag unrichtig ausgelegt, jedoch keinen Teilbeschluss erlassen (unerkannter Teilbeschluss).
Nach § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 a.a.O. vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Satz 2 a.a.O.). Der Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG ist schon vor K...