Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Sozialhilfe. Ausländer. Leistungsausschluss bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Europarechtskonformität
Leitsatz (amtlich)
1. Die Vereinbarkeit des vollständigen Leistungsausschlusses gem § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 bzw § 23 Abs 3 S 1 SGB 12 für Unionsbürger, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, mit dem Diskriminierungsverbot des Art 12 EG ist zumindest offen.
2. Trotz der gesetzlichen Ausschlussregelung des nationalen Rechts kann sich angesichts deren fraglicher Vereinbarkeit mit sekundärem Gemeinschaftsrecht im Rahmen der im Eilverfahren vorzunehmenden Interessen- und Folgenabwägung eine Verpflichtung zur Erbringung einer Mindestversorgung ergeben.
Orientierungssatz
1. Bei ausländischen Staatsangehörigen aus den neuen Beitrittsstaaten der EU, deren Beschäftigung der Genehmigungspflicht nach § 284 SGB 3 unterliegt, bedarf das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit iS von § 8 Abs 2 SGB 2 einer über die bloße abstrakte Möglichkeit hinausgehenden Aussicht auf Erteilung der Arbeitsgenehmigung-EU.
2. Zum Nichtvorliegen von Ansprüchen ungarischer Staatsangehöriger auf Leistungen nach SGB 2 aus den Regelungen der EWGV 1408/71 bzw EWGV 1612/68 iVm Art 12, 39 EG.
3. Ist ein Leistungsanspruch mangels Erwerbsfähigkeit bereits gem § 7 Abs 1 S 1 SGB 2 iVm § 8 Abs 2 SGB 2 ausgeschlossen, so kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB 2 europarechtskonform ist.
4. § 21 S 1 SGB 12 steht einem Sozialhilfeanspruch nicht entgegen, soweit Erwerbsfähigkeit gem § 8 Abs 2 SGB 2 aktuell nicht vorliegt.
5. Zur Prüfung eines gemeinschaftsrechtlichen Aufenthaltsrechts.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Stuttgart vom 20. Juni 2008 abgeändert und die Beigeladene verpflichtet, den Antragstellern vorläufig und darlehensweise Sozialhilfe in Form der Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 3. Juli bis 31. Oktober 2008 in gesetzlicher Höhe zu gewähren; die Leistungen sind in Höhe von achtzig Prozent des jeweiligen Regelsatzes zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragsteller im Beschwerdeverfahren zu vier Fünfteln; im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Den Antragstellern wird für das Beschwerdeverfahren ab 25. Juni 2008 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt Dr. G. beigeordnet.
Gründe
Die gem. § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, insb. ist sie statthaft gem. § 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG, da der Beschwerdewert € 750.- übersteigt. Sie ist jedoch nur hinsichtlich der Verpflichtung der Beigeladenen begründet; hinsichtlich der Antragsgegnerin ist sie unbegründet.
Dem erkennbaren Begehren (§ 123 SGG) der Antragsteller ist trotz der auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende und hilfsweise für Asylbewerber beschränkten rechtlichen Ausführungen und der entsprechenden Formulierung des Antrags in der Beschwerdeschrift zu entnehmen, dass sie Leistungen eines Grundsicherungssystems geltend machen wollen, die ihren Lebensunterhalt sicherstellen. Auch wenn die Beiladung der Stadt Stuttgart nur wegen deren Zuständigkeit für die hilfsweise begehrten Leistungen für Asylbewerber beantragt worden war, war daher ein Anspruch gegen diese auch im Rahmen der Sozialhilfe zu prüfen.
I.
Nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache, soweit nicht ein Fall des Abs. 1 vorliegt, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch die Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Abs. 2 S. 2). Der Antrag nach § 86b Abs. 2 SGG ist schon vor Klageerhebung zulässig.
Vorliegend kommt für das Begehren auf Leistungen nur eine Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 S. 2 SGG in Betracht. Der Erlass einer einstweilige Anordnung verlangt grundsätzlich die - summarische - Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache sowie die Erforderlichkeit einer vorläufigen gerichtlichen Entscheidung (ständige Rechtsprechung des Senats; vgl. FEVS 57, 72 und 57, 164). Die Erfolgsaussichten des Hauptsacherechtsbehelfs (Anordnungsanspruch) und die Eilbedürftigkeit der erstrebten einstweiligen Regelung (Anordnungsgrund) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫); dabei sind die insoweit zu stellenden Anforderungen um so niedriger, je schwerer die mit der Versagung vorläufigen Rechtsschutzes verbundenen Belastungen - insbesondere mit Blick auf ihre Grundrechtsrelevanz...