Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Einverständnis zum Verzicht auf mündliche Verhandlung. kein Verbrauch des Einverständnisses durch Entscheidung über erfolglosen Befangenheitsantrag. Fristversäumung. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Berufungsfrist. Aufgabe der Berufungsschrift am Freitag zur Post. übliche Postlaufzeit. Vertrauen auf Eingang am Montag bei Gericht. Klagefrist. geschwächter Allgemeinzustand mit mehrfachen Stürzen und Zusammenbrüchen. Nachvollziehbarkeit der Verhinderung für den gesamten Zeitraum der einmonatigen Klagefrist
Orientierungssatz
1. Eine einmal erklärte Einverständniserklärung mit einem Urteil im schriftlichen Verfahren nach § 124 Abs 2 SGG wird nicht unwirksam, wenn ein Beteiligter nach dieser Erklärung ein Mitglied des Gerichts ablehnt.
2. Wer ein Schriftstück am Freitag zur Post gibt, darf darauf vertrauen, dass der übliche Postlauf eingehalten wird und das Schriftstück am folgenden Montag bei Gericht eintrifft. Gegen unerwartete Verzögerungen muss er keine Vorkehrungen treffen (vgl BSG vom 28.6.1988 - 2 BU 157/87 = HV-INFO 1988, 1862).
3. Verhinderungsgründe für die Einhaltung der Klagefrist sind nicht nach § 67 Abs 2 S 2 SGG hinreichend glaubhaft, wenn nicht nachzuvollziehen ist, dass der Kläger (hier aufgrund eines geschwächten Allgemeinzustandes mit mehrfachen Stürzen und Zusammenbrüchen) mehr als einen Monat nicht in der Lage gewesen sein soll, seinen Briefkasten zu leeren, die Klage zu verfassen und sie zur Post zu bringen.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stuttgart vom 27. Juli 2016 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich mit seiner Berufung gegen ein Urteil, mit dem seine Klage als unzulässig abgewiesen worden ist. Der Beklagte wendet ein, auch die Berufung sei unzulässig. In der Sache begehrt der Kläger die Zuerkennung eines höheren Grades der Behinderung (GdB) und des Nachteilsausgleichs (Merkzeichens) „G“ (gehbehindert).
Der Kläger ist 1953 geboren und wohnt im Inland. Auf Grund eines Vergleichs vom 24. April 2014 in einem früheren Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg (L 3 SB 3150/13) erkannte der Beklagte mit Ausführungsbescheid vom 3. Juni 2014 einen GdB von 50 und die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch an.
Der Kläger beantragte am 23. Juni 2014 Neufeststellung des GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens „G“. Der Beklagte zog neue ärztliche Unterlagen, insbesondere Atteste der Allgemeinmedizinerin Dr. L. und der Neurologin und Psychiaterin Dr. v. F.-P., bei. Nach einer Auswertung der neuen und der schon aktenkundigen Befundunterlagen führte der versorgungsärztliche Dienst des Beklagten aus, es sei - unverändert - von einer Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Teil-GdB 30), einem organischen Nervenleiden, chronischem Schmerzsyndrom, Alkoholkrankheit und Polyneuropathie (30), einer Entleerungsstörung der Harnblase (20) und einer Refluxkrankheit der Speiseröhre (10) auszugehen, der Gesamt-GdB betrage weiterhin 50. Für eine relevante Gehbehinderung sei nichts ersichtlich. Gestützt hierauf lehnte der Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 30. April 2015 ab.
Der Kläger erhob Widerspruch, den der Beklagte nach Einholung und versorgungsärztlicher Auswertung neuer Befundunterlagen mit Widerspruchsbescheid vom 27. Januar 2016 zurückwies. Dieser Widerspruchsbescheid wurde am selben Tag zur Post gegeben (handschriftlicher Absendevermerk vom 27. Januar 2016 auf der Durchschrift des Widerspruchsbescheids).
Der Kläger hat am 3. März 2016 Klage bei dem Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben. Den Umschlag hat das SG zur Akte genommen. Bereits in der Klageschrift hat er ausgeführt, er habe den Widerspruchsbescheid ein paar Tage später erhalten, er sei krank und somit sei es ihm nicht möglich gewesen, die Klage früher zu erheben. In der Sache hat er vorgetragen, er sei auf einen Rollator angewiesen. Auf Nachfrage des SG hat der Kläger das Attest von Dr. L. vom 11. Mai 2016 und den Entlassungsbericht des M.-Hospitals St. vom 25. April 2016 zur Akte gereicht. Er hat mitgeteilt, er sei oft umgefallen, ohne aufstehen zu können, und habe bis zum Bett kriechen müssen, sodass er sich nicht zum Briefkasten habe begeben können.
Der Beklagte hat die Klage für verfristet gehalten. In der Sache hat er vorgetragen, die Verordnung des Rollators, die ihm bereits bekannt gewesen sei, sei wegen eines Sturzes bei Alkoholintoxikation erfolgt.
Mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 27. Juli 2016 hat das SG die Klage als unzulässig abgewiesen. Sie sei verfristet; die Klagefrist sei am 29. Februar 2016 abgelaufen gewesen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Der Kläger habe keine ausreichenden Gründe für die Fristversäumnis mitgeteilt. Medizinische Gründe seien nach Aktenlage nicht zu erkennen. Soweit er vorgetragen habe...