Entscheidungsstichwort (Thema)
Voraussetzungen eines Anspruchs auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung
Orientierungssatz
1. Ist das Leistungsvermögen des Versicherten lediglich qualitativ, aber nicht quantitativ eingeschränkt, d. h. kann er arbeitstäglich zumindest leichte körperliche Arbeiten regelmäßig im Umfang von sechs Stunden verrichten, so ist die Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung nach § 43 Abs. 2 SGB 6 ausgeschlossen.
2. Trotz eines noch sechsstündigen täglichen Leistungsvermögens besteht die Verpflichtung zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit, wenn eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische Leistungsbehinderung bei dem Versicherten vorliegt (BSG Urteil vom 11. 12. 2019, B 13 R 7/18 R).
3. Sind die qualitativen Leistungseinschränkungen des Versicherten nicht ungewöhnlich, so besteht keine Pflicht zur Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit.
4. Ein Anspruch auf Gewährung von Rente wegen voller Erwerbsminderung aufgrund aufgehobener Wegefähigkeit besteht noch nicht, wenn der Versicherte noch in der Lage ist, eine Gehstrecke von 500 Metern viermal am Tag in weniger als 20 Minuten zurückzulegen und öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 29.05.2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.
Der 1962 geborene Kläger hat keine abgeschlossene Ausbildung. Eine Lehre zum Fliesenleger brach er ab. Seit 1984 war er bei der D. AG versicherungspflichtig beschäftigt, wo er zuletzt als Gabelstaplerfahrer tätig war. Infolge eines Arbeitsunfalls am 20.04.2010, bei dem sich der Kläger eine offene Zweietagenfraktur am linken Oberschenkel zuzog, war er arbeitsunfähig erkrankt. Er bezog zunächst bis 12.12.2011 Verletztengeld und anschließend bis 11.12.2012 Arbeitslosengeld. Daran anschließend war der Kläger ohne Leistungsbezug arbeitslos. Von Mai bis Ende Dezember 2018 übte der Kläger eine geringfügige nicht versicherungspflichtige Beschäftigung aus. Es sind seit 17.11.2010 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 und das Merkzeichen "G" anerkannt.
Erstmalig beantragte der Kläger bei der Beklagten am 04.07.2011 die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Seinen Antrag begründete er mit den orthopädischen Folgen des erlittenen Arbeitsunfalls und seither bestehenden schweren Depressionen. Nach Beiziehung der medizinischen Unterlagen der Berufsgenossenschaft (BG) Holz und Metall und Einholung einer Stellungnahme des Sozialmedizinischen Dienstes lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 11.08.2011 mit der Begründung ab, der Kläger könne unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch zumindest sechs Stunden täglich erwerbstätig sein. Im Widerspruchsverfahren ließ die Beklagte den Kläger durch Dr. W., Facharzt für Chirurgie/Unfallchirurgie, Dr. B., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, und Dr. M., Arzt für Innere Medizin, begutachten. Die Gutachter gelangten zu dem Ergebnis, dass der Kläger trotz der Restbeschwerden im linken Oberschenkel und der linken Hüfte, der Blutzuckererkrankung, des Bluthochdrucks und der Anpassungsstörung noch körperlich leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes unter Berücksichtigung von qualitativen Einschränkungen für längeres Gehen und Stehen, Arbeiten in gebückter Haltung, in Hocke, und mit Rumpfzwangshaltungen, auf Leitern und Gerüsten, auf schwierigem und unebenem Boden, an unmittelbar gefährdenden Maschinen und Nachtschicht im Umfang von sechs Stunden und mehr ausüben könne (fachärztliches Gutachten vom 16.02.2012). Mit Widerspruchsbescheid vom 29.03.2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Im sich anschließenden Klageverfahren beim Sozialgericht Reutlingen (SG) wurden die Ärzte des Klägers befragt und von Amts wegen ein Sachverständigengutachten bei Prof. Dr. W., Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, eingeholt. Sie stellte im März 2013 eine leichte depressive Episode, Sensibilitätsstörungen am linken Oberschenkel und eine leichte Gangstörung fest. Unter Berücksichtigung von qualitativen Einschränkungen für Tätigkeiten mit Störungen des Tag-/Nachtrhythmus (häufige Wechselschicht, Nachtschicht), mit hohen Anforderungen an die Verantwortung, die Umstellungsfähigkeit oder das Konzentrationsvermögen, mit häufiger Rumpfvorbeuge und langem Sitzen (über 45 min am Stück) seien leichte Tätigkeiten im Umfang von zumindest sechs Stunden noch möglich. Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) holte das SG außerdem bei Dr. E., Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Medizinischer Direktor im Klinikum N. C. /H., ein Sachverständigengutachten ein. Auch dieser Sachverständige ging diagnostisch von einer leichtgradigen depressiven Episode, bei initial deutlicher Anpassungsstörung aus und erachtete die Ausübung leichter beruflicher Tätigkeiten unter Be...